Wie ein EU-Bürger in SH ausgebeutet wurde

Wie ein EU-Bürger in SH ausgebeutet wurde

Kiel. Die Frau hätte die drei Jahre Zwangsarbeit fast nicht überlebt. Als sie vor zwei Jahren ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war sie bis auf die Knochen abgemagert und konnte sich kaum bewegen: „Ich war zu 80 Prozent tot“, sagt sie. Es lag eine Zeit hinter ihr, an die sie sich nur unter Tränen erinnert. Ein Martyrium – mitten in Schleswig-Holstein.

Lesen Sie danach mehr Werbung

Lesen Sie danach mehr Werbung

Eigentlich war die Frau auf der Suche nach einem neuen Job in ihrem Heimatland, einem EU-Land. Doch die Chefs einer Firma machten ihr große Versprechungen hinsichtlich einer lukrativen Arbeit in Deutschland. Sie haben vom Mindestlohn gesprochen. „Aber sie haben gelogen. Tatsächlich habe ich sehr wenig verdient. In drei Jahren waren es 900 Euro.“ Drei Jahre, in denen sie bis zu 17 Stunden am Tag arbeitete.

Zwangsarbeit ist kein Einzelfall – aber das Dunkelfeld ist groß

Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Das Landeskriminalamt gehe von einer hohen Dunkelziffer bei Zwangsarbeit und Menschenhandel aus, erklärt Sprecherin Lena Grande. Die Staatsanwaltschaft Kiel verzeichnet nur „sehr wenige Fälle und praktisch keine Strafanzeigen von Opfern“, wie Oberstaatsanwalt Henning Hadeler berichtet. Doch bei der Schwarzarbeitskontrolle deckt der Zoll immer wieder Fälle von Zwangsarbeit auf.

Lesen Sie danach mehr Werbung

Lesen Sie danach mehr Werbung

In diesem Fall möchte die betroffene Person, nennen wir sie Anna, anonym bleiben. Sie muss. Denn die Chefs wissen, wo ihre Familie wohnt. „Ich habe keine Angst mehr vor ihnen“, sagt sie bestimmt. „Aber ich habe Angst, dass sie meiner Familie etwas antun.“ Neben Anna sitzt ein Berater der Kieler Contra-Abteilung, der Annas Angaben bestätigt. Aber auch sie darf nicht erkannt werden, um ihre Kunden nicht zu gefährden. Sie betreut Opfer von Menschenhandel und Zwangsarbeit.

Anna sei eine der vielen unsichtbaren Arbeitskräfte, die im Dienstleistungssektor ausgebeutet würden, berichtet die Leiterin der Beratungsstelle, Claudia Rabe. In den letzten Jahren wenden sich immer mehr Menschen an sie, die von Zwangsarbeit betroffen sind. „Sie arbeiten in der Gastronomie, im Service, in der Reinigung, im Hotelgewerbe, als Haushaltshilfe oder in der Pflege. Hinter fast jedem einzelnen Fall stehen andere Opfer.“

40 bis 70 Euro Monatslohn für EU-Bürger in SH

Anna berichtet auch, dass sie nicht allein war, sondern drei Jahre lang mit mehreren Frauen in verschiedenen Wohnungen lebte. Davon 18 Monate ebenfalls in einer Großstadt in Schleswig-Holstein. „Wir wurden wie Sklaven gehalten“, fasst sie zusammen. „Es gab Matratzen in den Zimmern. Ich hatte keinen eigenen Schlafplatz. Wir haben in Schichten geschlafen. Einige arbeiteten, andere schliefen.“

Die Chefs und ihre Leute hatten daher die vollständige Kontrolle über die Frauen. Sie nahmen ihre Ausweispapiere und ihre Mobiltelefone mit. „Ich durfte meine Familie nur alle drei oder vier Monate vom Telefon eines Chefs aus anrufen.“ Sie erhielt ein Gehalt von 40 bis 70 Euro im Monat, „manchmal auch gar nichts“. Sie schickte das Geld an ihre bedürftige Mutter. Aber sie erzählte ihr nichts von ihren Problemen. „Ich wollte meine Familie damit nicht belasten.“

Als Antwort auf Fragen eine Ohrfeige

Einmal öffnete Anna ein Fenster. „Als ich mich aus dem Fenster lehnte, um frische Luft zu atmen, wurde ich von hinten zu Boden geworfen.“ Gewalt war normal. Eine der Frauen hatte Fluchtpläne. „Sie wurde so geschlagen, dass sie ihr Bett zwei Wochen lang nicht verlassen konnte.“ Einer der schlimmsten Momente für Anna war, als sie sich mit einer anderen Frau anfreundete: „Dann war die Frau plötzlich verschwunden. Freundschaften waren nicht erlaubt.“ Insgesamt lernte sie im Laufe der Jahre 15 Frauen kennen. Es gibt auch viele andere, deren Sprachen sie nicht verstand und über die sie wenig weiß.

Lesen Sie danach mehr Werbung

Lesen Sie danach mehr Werbung

Anna wusste jedenfalls sehr wenig. Wenn sie etwas wissen wollte, würde sie sagen: „Du stellst zu viele Fragen.“ Manchmal war die Antwort ein Schlag ins Gesicht. Anna sah keinen Ausweg aus ihrer misslichen Lage. Sie verstand kein Deutsch und wusste nicht, wo sie wohnte, weil sie zu ihren Arbeitsorten gefahren wurde. Die Wohnungen, in denen die Frauen schliefen, wurden mehrmals spontan gewechselt.

Ob Gastronomie, Pflege oder Rotlichtviertel: Zwangsarbeit gibt es in vielen Branchen

Ihre Arbeitseinsätze lagen an bekannten Standorten in Schleswig-Holstein, sie sollten aber geheim bleiben: „Wir dürfen die Branche nicht nennen“, warnt Claudia Rabe. Auch ob die Staatsanwaltschaft in diesem Fall ermittelt, lässt Rabe offen. „75 Prozent der Betroffenen entscheiden sich gegen eine Strafanzeige“, sagt sie.

Laut Daniela Thun vom Hauptzollamt Itzehoe laufen derzeit Ermittlungen. Die Opfer kommen überwiegend aus Osteuropa und Asien; Sie arbeiten im Rotlichtviertel, in Restaurants und in Nagelstudios, aber „auch andere Wirtschaftszweige sind immer wieder betroffen“. Psychische Gewalt wird häufig ausgeübt oder angedroht.

Zur Arbeit gezwungen: „Hunde werden in Deutschland besser behandelt als wir“

Anna sagt: „Die Arbeit selbst war nicht schwierig. Schlimm war der geringe Schlaf und die langen Arbeitszeiten, auch nachts.“ Manchmal waren es neun, manchmal 17 Stunden am Stück, erinnert sie sich. Die kurzen Pausen zwischendurch nutzte sie zum Duschen, Schlafen und Essen. „Wir haben gegessen, was eine von uns Frauen zubereitet hat. Manchmal gab es nichts mehr zu essen, wenn man aufwachte.“ Die Täter brachten das Essen in Tüten mit, teilweise gab es auch Fastfood. „Hunde werden in Deutschland besser behandelt als bei uns“, sagt Anna.

Lesen Sie danach mehr Werbung

Lesen Sie danach mehr Werbung

Das schlechte Essen, der wenig Schlaf, die harte Arbeit und die Schadstoffe, mit denen sie während ihrer Arbeit in Kontakt kam, hinterließen ihre Spuren. „Jeder, der krank wurde oder Schmerzen hatte, bekam Tabletten.“ Anna kann nicht genau sagen, was sie genommen hat. Sie glaubt, dass es das Schmerzmittel Ibuprofen war. „Manchmal habe ich fünf Tabletten am Tag eingenommen.“ Den Frauen war es verboten, zum Arzt zu gehen oder zu versuchen, die Krankheit zu heilen. Sie mussten weiterarbeiten.

Der Zoll ermittelt in einem weiteren Fall wegen des Verdachts des Menschenhandels

Das Hauptzollamt Kiel ist derzeit ähnlichen Machenschaften auf der Spur. „Derzeit läuft ein Ermittlungsverfahren wegen weitgehender Lohneinbehaltung“, sagt Sprecherin Gabriele Oder. „Auch das Thema Menschenhandel und die ausbeuterische Beschäftigung von mehr als 350 Mitarbeitern wird untersucht.“

Den Mitarbeitern wird oft nachgesagt, sie hätten weder Bargeld noch Deutschkenntnisse gehabt. Ihre persönlichen Dokumente sollen beschlagnahmt und ihre Entscheidung über ihren Aufenthaltsort eingeschränkt worden sein. Außerdem sollen sie überhöhte Mieten für menschenunwürdige Unterkünfte gezahlt haben. Dadurch sollen die Mitarbeiter für fünf Euro pro Stunde gearbeitet haben.

Gegen die Schmerzen bekam sie Medikamente

Anna verdiente noch weniger. Und ihre Gesundheit ruiniert. Ihren körperlichen Verfall bemerkte sie zunächst gar nicht. Sie nahm die Pillen und nahm weiter ab. „Bis ich nur noch 40 Kilo wog.“ Eine schwere und sichtbare Entzündung könnte ihr das Leben gerettet haben. Denn ein Chef habe ihr den Pass gegeben, „damit sie einen Arzt aufsuchen konnte“.

Lesen Sie danach mehr Werbung

Lesen Sie danach mehr Werbung

Beratung für Menschen in Zwangsarbeit

Das Contra-Fachzentrum (www.contra-sh.de) ist auf die Beratung von Frauen spezialisiert, die von Menschenhandel und Zwangsprostitution betroffen sind. Dennoch wird Contra seit einigen Jahren zunehmend von Ratsuchenden kontaktiert, die sich in Zwangsarbeitssituationen befinden. Zwangsarbeit ist eine extreme Ausbeutung der Arbeitskraft, bei der die Notlage oder Hilflosigkeit des Opfers ausgenutzt wird. Mit einem neuen Projekt möchte das Fachzentrum seine Arbeit in diesem Bereich ausbauen, um Betroffenen neben Beratung auch Sicherheit in Form einer betreuten Wohnung bieten zu können. Denn diese Menschen leben und arbeiten meist sehr isoliert und sprechen kein Deutsch. Sie müssen sehr schnell eine Erstversorgung erhalten und benötigen auch eine Unterkunft, um der Situation der Ausbeutung entkommen zu können. Contras Arbeit wird vom Staat und der Nordkirche finanziert. Allerdings ist Contra für das neue Projekt gegen Zwangsarbeit auf Spenden angewiesen.

Aber Anna ging nicht zum Arzt. Bei der Arbeit lernte sie einen freundlichen Mann kennen, dessen Sprache sie spricht. Er sah ihre Not und nahm sie mit nach Hause. Aus Angst, ihren Peinigern ausgeliefert zu werden, weigerte sich Anna, zur Polizei zu gehen. „In meinem Land sind sie alle korrupt.“

Ohne die Medikamente ging es Anna jeden Tag schlechter. Am Ende konnte sie weder ihre Hände noch ihre Beine bewegen. Ihr Helfer rief einen Krankenwagen, der Anna ins Krankenhaus brachte. Dort blieb sie insgesamt acht Monate und musste sich mehreren Operationen unterziehen. „Mein Blut war vergiftet, meine Niere zerstört.“

Da die Chefs keine Krankenversicherung für sie hatten, musste Anna die Kosten für die medizinische Behandlung selbst tragen. „Ich habe also jetzt 200.000 Euro Schulden“, sagt sie. Bisher verweigerten die Krankenkassen die Aufnahme. Jetzt lebt sie von Sozialleistungen, möchte aber wieder arbeiten. Ihre Betreuerin schüttelt den Kopf: „Sie ist immer noch schwer krank und muss erneut operiert werden.“

Lesen Sie danach mehr Werbung

Lesen Sie danach mehr Werbung

Als Anna zur Zwangsarbeit nach Deutschland gelockt wurde, war sie noch gesund. Die dreijährige Tortur zerstörte ihr Leben.

KN

https://www.kn-online.de/lokales/kiel/zwangsarbeit-wie-eine-eu-buergerin-in-sh-ausgebeutet-wurde-M6VJANEYVZF5JKYN22A6OXWJ6Y.html

Die mobile Version verlassen