Geht es nach Präsident Putin, sollen die russischen Streitkräfte bald 1,5 Millionen Soldaten umfassen. Doch die größte Herausforderung besteht schon jetzt darin, Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine zu rekrutieren.
Die russische Armee wird immer größer – zumindest auf dem Papier. Präsident Wladimir Putin ordnete Anfang der Woche zum dritten Mal seit dem Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 eine Aufstockung der Streitkräfte an, diesmal um 180.000 Militärangehörige. Ab dem 1. Dezember wird diese Zahl 2.389.000 Menschen betragen, davon 1.500.000 Militärangehörige und der Rest Zivilangestellte. Damit wären fast eine halbe Million mehr Soldaten und Offiziere im Armeedienst als vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Die Armee war seit der Sowjetzeit noch nie so groß wie jetzt.
Putins Sprecher Dmitri Peskow begründete die Maßnahme mit den Bedrohungen entlang der Grenzen Russlands: Er sprach von äußerst feindseligen Bedingungen an den Westgrenzen und Instabilität an den Ostgrenzen. Deshalb sei ein Handeln notwendig. Im Dezember 2023 kommentierte er Putins damaligen Erlass mit der Aussage, der Westen führe einen Stellvertreterkrieg gegen Russland. Die entscheidende Frage ist aber: Wie will die Armee diese Bestände überhaupt auffüllen?
Erhöhung der finanziellen Anreize
Auch Militärexperten sehen in Putins jüngstem Erlass einen Papiertiger. Je größer die Armeestärke, desto mehr Geld kann das Verteidigungsministerium beanspruchen – der Erlass dürfte mit den anstehenden Haushaltsberatungen in der Staatsduma zusammenhängen. Einige aufgrund früherer Erlasse neu geschaffene Einheiten waren tatsächlich nie voll besetzt. Zeitweise dienten sie vor allem dazu, höheren Offizieren eine Funktion zu geben. Es mangelt an Ausrüstung und Trainingsmöglichkeiten. Auch „tote Seelen“ werden gezählt – als vermisst gemeldete Soldaten bleiben formal ihrer Einheit zugeteilt.
Das Verteidigungsministerium sucht mehr denn je nach neuen Soldaten. Solange der Kreml von einer neuen, höchst unpopulären Mobilisierungswelle absieht, muss er andere Anreize bieten. Wie sehr das Preisschild – Sold und Prämien – den Appell an die patriotische Pflicht des Mannes mittlerweile überstrahlt, zeigt sich in Moskau. Unübersehbare Plakate versprechen in riesigen Lettern 5,2 Millionen Rubel (rund 52.000 Franken) für den Dienst am Vaterland. Bänke und Poller auf den Gehsteigen sind damit bedeckt, sie säumen die Hauptstraßen und sind an Bushaltestellen und in Schaufenstern aufgestellt. Sogar im Fahrkartenautomaten der Metro erscheint die Werbung beim Kaufvorgang.
Glaubt man offiziellen Aussagen, hat der ukrainische Vormarsch in der Grenzregion Kursk den Rekrutierungsbemühungen geholfen. Mehr Männer als zuvor seien bereit, sich an der Front zu verpflichten, heißt es. Das russische Exil-Rechercheportal „Vashniye Istorii“ folgerte aus offiziellen Zahlen zu den Militärausgaben im ersten Halbjahr, dass sich die Zahl der neu rekrutierten Zeitsoldaten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast versechsfacht – auf knapp 170.000. Im Jahresverlauf verdoppelte Putin nicht nur den staatlichen Bonus für Vertragsabschlüsse, auch zahlreiche Regionen zogen nach und erhöhten ihren Anteil an den finanziellen Anreizen.
Falsche Hoffnungen
Manche Männer fahren in die Hauptstadt, wo die höchsten Summen geboten werden. Doch nicht immer ist ihnen bewusst, worauf sie sich einlassen. Zum einen sind es oft geschönte Berichte vom Frontkampf, in denen sich die frisch rekrutierten Soldaten nicht wiedererkennen. Zum anderen unterschätzen sie, wie viel eigenes Geld in Ausrüstung investiert werden muss, um im Überlebenskampf nicht von vornherein verloren zu sein. Nicht alle wissen, dass Verträge mit dem Verteidigungsministerium kein Ablaufdatum haben. Sie gelten bis zum Ende des „militärischen Sondereinsatzes“. Eine vorzeitige Kündigung ist seit zwei Jahren nicht mehr möglich. Nur Freiwilligenverbände erlauben flexiblere Regelungen.
Trotz der stärkeren finanziellen Anreize, die Russlands Staatsausgaben immer mehr belasten, dünnt die Rekrutierungsbasis aus. Es hat sich herumgesprochen, dass ein Einsatz an der Front ein Selbstmordkommando ist. Allein um die hohen Verluste auszugleichen, die offiziell noch nicht beziffert sind, ist eine hohe Rekrutierungsrate nötig. Sollte Putin den Personalbestand der Armee erhöhen, wird die Lücke noch größer werden.
Deshalb suchen Verteidigungsministerium und Parlament immer wieder nach neuen Wegen, um an Soldaten zu kommen. Wer neu eingebürgert ist und sich nicht rechtzeitig beim Militäramt meldet, verliert seine russische Staatsbürgerschaft. Das Alter für Wehrpflichtige wurde bereits erhöht. In Kursk wurden erstmals junge Wehrpflichtige, die bisher meist von der Front ferngehalten wurden, zum Kampfeinsatz herangezogen. Auch der Druck auf Rekruten, sich schon nach wenigen Wochen als Zeitsoldaten zu melden, nimmt zu.
In den Krieg statt ins Gefängnis
Oft melden sich nur Verzweifelte und jene, die die Front als einzigen Ausweg aus einer schwierigen Situation sehen. Es sind Männer, die sich mit ihren Frauen zerstritten haben oder hoch verschuldet sind – manche mit den Propagandaslogans aus dem Fernsehen im Kopf und dem Glauben, ihren Kindern damit eine bessere Zukunft zu bieten.
Auch Häftlinge werden weiterhin rekrutiert. Das Verteidigungsministerium hat ein neues Programm aufgelegt, bei dem ehemalige Frontsoldaten in Strafkolonien auf Rekrutierungstour gehen. Das russische Parlament will es zudem ermöglichen, dass noch untersuchte Personen unter bestimmten Voraussetzungen einen Vertrag mit der Armee unterschreiben. Zeichneten sie sich im Feld aus, wird das Strafverfahren ohne Urteil eingestellt. Juristen sehen darin eine gravierende Verzerrung des Rechtsstaats. Sie berichten zudem, dass Verfahrensfehler nun häufiger geduldet würden, weil die Richter davon ausgingen, dass Verurteilte ihre Strafe nicht absitzen, sondern in den Krieg ziehen würden.