![Schachweltmeisterschaft in Singapur: Immer wieder Fehler Schachweltmeisterschaft in Singapur: Immer wieder Fehler](https://i0.wp.com/taz.de/picture/7401942/1200/37168184-1.jpeg?w=1024&resize=1024,0&ssl=1)
Nie zuvor gab es so scharfe Kritik am Niveau einer Schachweltmeisterschaft. Im Internet ist es üblich, dass Amateurzuschauer, die sich mit den überlegenen Schachprogrammen ausrüsten, schweigen. Aber auch Ausnahmetalente stimmen im Refrain mit ein.
„Aus professioneller Sicht ist das wirklich ein sehr enttäuschendes Niveau beider Spieler“, sagte Wladimir Kramnik. Der ehemalige Weltmeister geißelte besonders das sechste der bislang elf Spiele zwischen Titelverteidiger Ding Liren aus China und Herausforderer Dommaraju Gukesh aus Indien in Singapur. „Beide Spieler reihen Fehler an Fehler aneinander“, sagte der 49-jährige Russe, der in der Schweiz lebt.
Auch der Weltranglistenerste Magnus Carlsen aus Norwegen, der Ding Liren durch seinen Titelverzicht die Chance auf die WM-Krone 2023 eröffnete, hat „große Schwierigkeiten“, Gukeshs Spielverständnis zu „verstehen“. Und auch der Weltranglistenzweite Hikaru Nakamura aus den USA versteht die Taktik im WM-Kampf nicht. Auf seinem YouTube-Kanal hob er besonders das „sechste Spiel, das für mich schwer zu verstehen war“ hervor.
Obwohl Ding Liren alle Vorteile in seiner Hand hatte und „leicht“ auf Sieg hätte spielen können, hatte Nakamura das „verrückte Gefühl“, dass es der 18-jährige Gukesh war, der den vollen Punkt mitnehmen wollte. „Die Psychologie dahinter ist schwer zu verstehen.“
Im achten Spiel ging es hin und her. Allerdings machten beide Seiten Fehler und verpassten die Chance, mit einem Sieg in Führung zu gehen. Nach elf der 14 Spiele steht es immer noch 6:5 für Gukesh. Das heißt, er braucht nur noch drei Remis, um mit verkürzten Bedenkzeiten dem Tiebreak zu entgehen und der jüngste Weltmeister in der Schachgeschichte zu werden.
Jeder sieht die Fehler
Die beiden Schauspieler in Singapur sind insofern aufschlussreich, als sie oft über „Fehler“ sprechen. „Ich habe mich verrechnet und übersehen“ dies und das war eine der häufigsten Aussagen in den Analysen auf den Pressekonferenzen. Vollkommen zufrieden waren die Sieger erst mit dem Auftaktspiel, das Ding Liren gewann, und dem dritten Duell, das der Inder zum Ausgleich nutzte. Der 32-jährige Chinese half sehr, weil er im gegnerischen weißen Lager einen Läufer zurückließ. Das war auch am Sonntag der Fall. Der 32-Jährige machte einen Fehler, als er einen Turm aufstellte, weil er ein einfaches Damenopfer der Inderin übersah.
Vor dem Fehler war Ding Liren zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Duells. Niemand – nicht einmal er – hatte ihm eine so lange Chance auf die Titelverteidigung zugetraut. Alle Experten waren sich einig, dass Gukesh, der kürzlich brillante junge Stürmer, den Weltmeister überholen würde. Ding fiel nach seinem knappen Sieg im Weltcup-Tiebreak gegen den Russen Jan Nepomnyashchi 2023 in eine tiefe Depression.
Danach war der ehemalige Weltranglistenzweite, der auf Platz 23 abgerutscht war, nur noch ein Schatten seiner selbst. Ding, der vor fünf Jahren in 100 Spielen ungeschlagen war, folgte als Weltmeister eine Serie von 28 Spielen ohne vollen Punkt mit sieben Niederlagen.
Aber dass Gukesh zu ihm passt, zeigt sich auch in Singapur. Die Gesamtbilanz nach Siegen der Chinesen liegt weiterhin bei 3:2. Doch wie schon im elften Spiel leistete sich der amtierende Meister zu viele schlimme Fehler. Gukeshs oft positionell unbegründeter aggressiver Stil trägt, wie Kramnik glaubt, doch Früchte.
Schachfans, die klinisch reine und gut umkämpfte Partien sehen wollen, müssen sich wohl bis zum 11. und 12. Januar gedulden. Dann tritt der Weltranglistenerste aus Norwegen erstmals beim FC St. Pauli in der Bundesliga an.