Matt Johnson: Die Stimme aus der Vergangenheit

Matt Johnson: Die Stimme aus der Vergangenheit

„Nostalgie“, sagte Matt Johnson vor wenigen Tagen bei einem Konzert seines Musikprojekts The The in Berlin ins Mikrofon, „ist eine feine Sache.“ Es war nicht ganz klar, ob Johnson den Satz ernst oder ironisch meinte. Dann spielte seine Begleitband – vier Männer, alle etwa im gleichen Alter wie Johnson, um die 60, etwas drüber – die ersten Töne von Unsicheres Lächelnein Lied aus dem Jahr 1982.

Ich habe unzählige Male Unsicheres Lächeln getanzt. Aber das ist lange her. Vor Jahrzehnten war ich noch Teenager. 1988 habe ich auf einer Schallplattenbörse 80 Mark für die Maxi-Single dieses Lieds bezahlt. Fragen Sie mich nicht, warum ich mich noch genau an den Preis erinnere. Vielleicht hat es etwas mit Nostalgie zu tun. Oder mit einem Gedächtnis, das die obskursten Dinge speichert und oft nicht die offensichtlichen.

Dies ist ein Text über das Fan-Sein, das Vergehen und Stillstehen der Zeit, die Frage, ob man die Zeit zurückholen kann oder es lieber nicht versuchen sollte. Über Nostalgie und allgemeines Vergnügen. Ich habe auch mit Matt Johnson gesprochen, zum ersten Mal in meinem Leben. Wenn man das Werk eines Musikers fast vier Jahrzehnte lang ein wenig zu genau verfolgt, kann das emotional schon etwas zermürben. Und das ist nicht gut für die journalistische Objektivität. Aber das stünde einem ausnahmsweise im Weg, wenn man über das Fan-Sein nachdenken wollte. Es ist eine Frage der Erfahrung.

Beim Konzert in Berlin im Huxleys Neue Welt (Neukölln, kein anderer Saal in Berlin strahlt mehr Achtziger aus) sang er ein paar Lieder Unsicheres Lächeln Draußen auf der Raucherterrasse sagte ein Typ, etwa 60 Jahre alt, zu einem anderen Mann ähnlichen Alters mit buschigem Bart: „Langweilig.“ Das Konzert war langweilig. Die Band klang wie eine Schulband, die Songs von The The covert. Konnte sich Johnson nicht bessere Musiker leisten? 80 Euro für die Karte! Naja, er, im hellblauen Einstürzende Neubauten-T-Shirt, haha, hat das natürlich nicht bezahlt. Bekam die Karte umsonst.

Die 80 Euro habe ich bezahlt. Hätte ich den Typen bei meinem letzten The-The-Konzert getroffen, 7. September 1989, Philipshalle Düsseldorf, Kartenpreis im Vorverkauf 28 Mark, hätte ich ernsthaft überlegt, ihn rückwärts über das Geländer der Raucherterrasse zu stoßen. Aus Protest, als beleidigter Fan. Aber man wird mit der Zeit vernünftiger.

Oder vielleicht auch nicht.

Fast ein Vierteljahrhundert lang war Matt Johnson fast völlig still, bis zu diesem Sommer. Johnson hat praktisch nichts aufgenommen, ist seit 2000 nicht mehr aufgetreten, seit NacktSelbst, Von The The – der Band, die kaum eins war, sondern eigentlich nur aus Johnson und angeheuerten Musikern bestand – ist kein richtiges Album mehr erschienen. Nach 2000 veröffentlichten The The nur noch Soundtracks von vier Filmen, die kaum jemand gesehen hat. Auch die Musik hat kaum jemand gehört.

Und dann war Johnsons Stimme plötzlich wieder da, Mitte Mai. Die The-The-Single Kognitiver Dissident erschien unangekündigt, zusammen mit der Nachricht, dass es auch ein ganzes Album geben würde namens Beseelung Das erste richtige Studioalbum von The The seit NacktSelbst. Letzteres klang schon damals wie ein Werk der alten Tage. Matt Johnson war Ende 30 und seit zwei Jahrzehnten im Musikgeschäft. Seine Stimme war eine der markantesten der Rockmusik, tief, rau, agil, schneidend, bedrohlich, voller Angst. Johnsons Stimme, so jedenfalls sahen das viele seiner Fans (und sicher nicht nur ich), war die eines Propheten. Das machte sein Schweigen umso merkwürdiger.

Man muss kurz über die Zeit nachdenken, die seitdem vergangen ist. NacktSelbst Als die Veröffentlichung erfolgte, standen die Twin Towers in New York noch, es gab keinen NATO-Krieg in Afghanistan und keinen Krieg der USA und ihrer Verbündeten im Irak. Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder waren in einem kurzen, selbsttäuschenden Zeitfenster an der Macht, das manche als das Ende der Geschichte betrachten wollten. Die Worte „Islamismus“ und „islamistischer Terror“ waren außerhalb von Sicherheitskreisen noch nicht geläufig.

Matt Johnson hatte viele Jahre lang über drohende Kriege zwischen den Weltreligionen gesungen. Er hatte sich selbst als US-Kampfpilot vorgestellt, der über dem Persischen Golf abstürzte (Süße Geburt der Wahrheit1986), lange bevor US-Kampfpiloten 1991 Einsätze über dem Irak flogen. Hatte vor einem weltbewegenden Konflikt zwischen Christen und Muslimen gewarnt (Die Tage des Armageddon sind da (wieder)1989). Erst zwölf Jahre später, am 11. September 2001, klangen die Zeilen dieses Liedes übertrieben. Sie sind auch heute noch verstörend und verstörend präsent: „Gott lebt nicht in Israel oder Rom / Gott gehört nicht dem Yankee-Dollar / Gott plant nicht die Bomben für die Hisbollah / Gott geht nicht einmal in die Kirche / Und Gott wird uns nicht zu Allah schicken, um uns zu verbrennen“.

Matt Johnson, so schien es zumindest vor 25, 30, 40 Jahren, war der Welt und den schrecklichsten Ideen und Taten der Menschheit immer einen Schritt voraus. Glücklicherweise sang Johnson auch über Liebe, die Seele und die menschliche Existenz. Aber meist auf eine Weise, die verzweifelt klang. Sagen wir es so: The The waren eindeutig nicht da, um gute Laune zu verbreiten.

Bitte nicht mehr prophetische

Und nun ist Johnsons Stimme plötzlich wieder da. Die Frage ist nicht nur, was ihr Besitzer im vergangenen Vierteljahrhundert geleistet hat. Sondern auch, ob der inzwischen 63-jährige Johnson der Welt oder wenigstens seinen Fans überhaupt noch etwas zu sagen hat. Prophetisch muss es nicht mehr sein. Oder bitte einfach nicht mehr. Zu oft haben sich Johnsons düstere Vorhersagen als richtig erwiesen.

Das findet auch Johnson selbst. Anfang August gab es einen Videoanruf mit ihm. Matt Johnson will sich nicht blicken lassen, jedenfalls nicht bei Zoom. Die Kamera bleibt aus, stattdessen sitzt Johnson irgendwo in London vor einem Computer, auf dem Bildschirm ist ein Gemälde seines verstorbenen Bruders Andrew zu sehen. Es ist das Coverbild des neuen Albums BeseelungAndydog, wie sich Andrew Johnson als Maler selbst nannte, schuf die Mehrzahl der Titelbilder von The-The, die oft ebenfalls verstörend wirkten. Die erste Ausgabe der Maxi von Infiziert (1986), die zweite Single aus dem gleichnamigen Album, zeigte einen masturbierenden Teufel. Sie war deshalb nicht lange auf dem Markt, zu anstößig. Das Coverbild wurde für spätere Pressungen geändert (ich habe natürlich noch die erste, 40 Mark auf einer Schallplattenbörse 1989).

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