„Anfang vom Ende der EU“
Hofreiter befürchtet Hunderttausende weitere ukrainische Flüchtlinge
14.09.2024, 19:07
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Die Ukraine drängt den Westen, Angriffe tief in Russland zu genehmigen. Bundeskanzler Scholz lehnt dies kategorisch ab. Der Grünen-Politiker Hofreiter warnt derweil vor einem erneuten Flüchtlingsstrom aus der Ukraine, sollte keine Unterstützung erfolgen.
Angesichts der drohenden Ausweitung der Kontrollen an Deutschlands Grenzen forderte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter, ein koordiniertes Vorgehen insbesondere mit Polen. „Wenn wir die Ukraine nicht weiter konsequent unterstützen, müssen wir in den nächsten Jahren mit Hunderttausenden Flüchtlingen rechnen, die vor dem russischen Angriffskrieg fliehen“, sagte der Grünen-Politiker dem „Tagesspiegel“.
Angesichts der Kritik des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk an den zusätzlichen Kontrollen an den deutschen Außengrenzen forderte Hofreiter eine europäische Lösung für die Migrationspolitik. Es wäre der Anfang vom Ende der EU, wenn jedes Mitgliedsland eigene Grenzkontrollen einführen würde, so Hofreiter weiter. Er erwarte, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Tusk auch künftig eng abstimmen würden, so Hofreiter.
Scholz erteilt Ukraine-Vorschlag eine Absage
Was mehr Unterstützung angeht, forderte die ukrainische Regierung ihre westlichen Verbündeten erneut auf, Langstreckenwaffen für Angriffe tief im Inneren Russlands freizugeben. „Starke Entscheidungen sind nötig. Der Terrorismus kann gestoppt werden, indem man die militärischen Einrichtungen zerstört, von denen er ausgeht“, schrieb der Leiter des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, auf dem Kurznachrichtendienst Telegram und meinte damit Flughäfen für russische Kampfflugzeuge.
Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte in dieser Frage allerdings, dass die Ukraine von Deutschland gelieferte Langstreckenwaffen nicht dazu einsetzen dürfe, Ziele tief in Russland anzugreifen. „Das wird auch so bleiben“, sagte der SPD-Politiker bei einem Bürgerdialog im brandenburgischen Prenzlau. „Deswegen bleibe ich bei meiner Position, auch wenn andere Länder anders entscheiden“, sagte Scholz mit Blick auf die USA. „Ich werde das nicht tun, weil ich glaube, dass es ein Problem ist.“
Europäische Lösung für Migrationspolitik gefordert
Unterdessen kritisierte Polens Ministerpräsident Donald Tusk die verstärkten Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen. „Der einzige Weg, die irreguläre Einwanderung zu stoppen, ist eine effiziente Kontrolle der EU-Außengrenzen. Nicht der Binnengrenzen“, sagte Tusk am späten Freitagabend im Sender X. Er machte die Bemerkungen nach einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz.
Die polnische Position in dieser Frage sei unverändert, so Tusk weiter. Hintergrund sei die von der Bundesregierung vorgenommene Ausweitung der Grenzkontrollen auf alle deutschen Außengrenzen, die ab diesem Montag wirksam werde. Allerdings gibt es derartige stationäre Kontrollen an den Übergängen an der deutsch-polnischen Grenze schon seit Monaten.
Scholz verteidigt Ausbau der Grenzkontrollen
Scholz verteidigte den geplanten Ausbau der Grenzkontrollen. „Irreguläre Migration ist nicht das, was wir wollen“, sagte der SPD-Politiker während der Fragerunde in Prenzlau. Wenn wie im vergangenen Jahr 300.000 Menschen nach Deutschland kämen, von denen nur ein Teil Anspruch auf Schutz habe, „dann ist das nicht gut.“ Deshalb müsse man genauer hinschauen, wer das Recht habe, ins Land einzureisen. „Denn leider können wir uns nicht hundertprozentig darauf verlassen, dass alle unsere Nachbarn tun, was sie sollen.“ Er betonte, dass Grenzkontrollen im Einklang mit europäischem Recht durchgeführt würden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat angeordnet, dass es ab Montag an allen deutschen Landgrenzen Grenzkontrollen geben wird, um die Zahl illegaler Einreisen weiter zu reduzieren. Die zusätzlichen Kontrollen sollen zunächst für sechs Monate gelten. Das gilt für Frankreich, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. An den Grenzen zu Österreich, Polen, Tschechien und der Schweiz gibt es bereits solche Kontrollen. Und auch an der Grenze zu Frankreich wurden jüngst Kontrollen eingeführt, was die Bundesregierung unter anderem mit den Olympischen Spielen begründete.
Bundespolizei zweifelt an Machbarkeit
Solche Grenzkontrollen sind innerhalb des Schengenraums normalerweise nicht vorgesehen, sie müssen der EU-Kommission gemeldet werden. In den Nachbarländern wird das deutsche Vorgehen kritisch gesehen. Die Bundesregierung begründet die Kontrollen mit Sicherheitsrisiken durch irreguläre Migration und Menschenschmuggelaktivitäten an den EU-Außengrenzen. Dies hat zu einem Anstieg irregulärer Grenzübertritte in Deutschland geführt, was die ohnehin angespannte Situation bei der Unterbringung von Flüchtlingen verschärft.
Die Bundespolizei äußerte wegen Personalmangels erneut Zweifel an der Durchführbarkeit der zusätzlichen Kontrollen. „Die Bundespolizei wird noch bis Montagvormittag damit beschäftigt sein, Kräfte zu sammeln“, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Andreas Roßkopf, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Das ist noch nicht abschließend geklärt“, kritisierte er die Beschlüsse der Regierung.