DDie Bevölkerung Englands und Wales wuchs im vergangenen Jahr um zehn Prozent oder 610.000 Menschen auf 60,9 Millionen. Der Anstieg, den das Office for National Statistics (ONS) für den Zeitraum bis Mitte 2023 bekannt gab, ist das stärkste Wachstum des Landes seit 75 Jahren.
Die steigende Bevölkerungszahl ist fast ausschließlich auf die Rekordzuwanderung zurückzuführen. Das sogenannte „natürliche“ Bevölkerungswachstum, die Lücke zwischen Geburten und Todesfällen, schrumpfte im Land auf 400 Personen, den niedrigsten Wert seit 1978.
Dem stand eine Nettozuwanderung von 622.000 Menschen gegenüber. Ein derart deutlicher Anstieg der Bevölkerungszahlen war zuletzt in den 1940er Jahren verzeichnet worden, dafür waren die Rückkehr von Militärangehörigen und ein Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Die Gesamtbevölkerung Großbritanniens betrug Mitte 2022 rund 67,6 Millionen Menschen. Für Nordirland und Schottland liegen noch keine aktualisierten Daten vor.
Die demografische Entwicklung hat erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung. Geringe Geburtenraten bei gleichzeitig geringer Zuwanderung führen zu einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung und damit in der Regel zu geringerer Wirtschaftskraft, geringeren Steuereinnahmen und erheblichem Druck auf Gesundheit und Pflege.
Mit der jüngsten Entwicklung steht Großbritannien besser da als die meisten europäischen Länder. In Deutschland wuchs die Bevölkerung im vergangenen Jahr um 3,5 Prozent oder 300.000 Menschen. In den vergangenen 20 Jahren entwickelte sich die Bevölkerung seitwärts oder schrumpfte leicht.
Ausnahmen bildeten die Jahre 2015 und 2022 mit jeweils einem Zuwachs von etwas über einer Million Menschen. In beiden Jahren war die Zuwanderung maßgeblich durch militärische Konflikte ausgelöst worden, zunächst in Syrien, dann in der Ukraine.
„Die größte europäische Volkswirtschaft – Deutschland – verzeichnete zu Beginn dieses Jahrzehnts ein moderat positives Bevölkerungswachstum, sieht sich nun aber einem anhaltenden Trend einer schrumpfenden Bevölkerung gegenüber“, sagte Anna Titareva, Ökonomin bei UBS. Nach einem Stillstand in diesem Jahrzehnt werde die Bevölkerung in Deutschland bis 2100 voraussichtlich um durchschnittlich 0,3 Prozent pro Jahrzehnt zurückgehen. In Südeuropa, insbesondere in Italien, Griechenland und Portugal, sind die Rückgänge noch ausgeprägter.
Zuwanderung fast ausschließlich aus Nicht-EU-Ländern
„Im Vergleich zu Deutschland sieht die Bevölkerungsdynamik in Frankreich optimistischer aus, hier wird erst gegen Ende der 2040er Jahre mit einer negativen Bevölkerungsentwicklung gerechnet.“ In Großbritannien rechnet sie erst in den 2080er Jahren mit einer solchen Trendwende.
Die Zusammensetzung der Neuankömmlinge hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. „Seit dem Brexit kam die Nettozuwanderung ausschließlich aus Nicht-EU-Ländern“, sagte Jonathan Portes, Wirtschaftsprofessor am King’s College in London. 2023 kamen 21 Prozent der Einwanderer aus Indien, gefolgt von Nigeria (12 Prozent) und China (7 Prozent). Großbritannien profitiert dabei von einem anhaltenden Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. In Deutschland schrumpft diese Gruppe seit der Jahrtausendwende leicht.
Wichtigster Einwanderungsgrund auf die Insel ist ein Arbeitsvisum. Für 41 Prozent der Neuankömmlinge war im vergangenen Jahr eine Erwerbstätigkeit der Grund für ihre Einreise. Nach dem Brexit führte Großbritannien 2021 ein sogenanntes Skilled Work Visa ein. Voraussetzung dafür ist mindestens eine Hochschulzugangsberechtigung und ein Jahresgehalt von ursprünglich 25.600 Pfund (rund 30.470 Euro). Seit April gilt eine deutlich höhere Grenze von 38.700 Pfund (rund 46.060 Euro). Pflegekräfte sind von dieser Gehaltsvorgabe ausgenommen.
Weitere 37 Prozent der Einwanderer kommen zum Studium ins Land. Sie haben die Möglichkeit, nach dem Studium zwei Jahre lang im Land zu arbeiten. Die restlichen Einwanderungsgründe unterteilen sich in humanitäre Gründe, Asyl und Familienzusammenführung.
Seit Einführung der neuen Visaregeln hat die Einwanderung ins Land stark zugenommen. Im Jahr 2023 sind die Zahlen im Vergleich zu 2019 um 180 Prozent gestiegen. Die jüngst abgewählte konservative Regierung hat immer wieder betont, sie wolle die Einwanderung deutlich reduzieren. In den vergangenen Monaten hat sie eine Reihe verschärfter Regeln eingeführt. Studenten und Pflegekräfte dürfen künftig kaum noch Verwandte mit ins Land holen.
Dies solle die Einwanderungszahlen deutlich reduzieren. „Ich rechne mit einem sehr deutlichen Rückgang der Einwanderung im Jahr 2024“, sagte Portes. Auch Labour hat in seinem Parteimanifest eine Reduzierung der Einwanderung angekündigt.
Labour will sich auf die Ausbildung konzentrieren
Das Land müsse unabhängiger von ausländischen Arbeitskräften werden und sich stattdessen auf die Bildung konzentrieren. Konkrete Ziele hat die neue Regierungspartei nicht genannt. Der Veränderungsdruck in der Bevölkerung hat allerdings deutlich nachgelassen. „Die Mehrheit steht der Einwanderung positiv gegenüber“, sagt Robert Ford, Politikwissenschaftler an der Universität Manchester.
Migration und der Wunsch, die eigenen Grenzen kontrollieren zu können, spielten beim Brexit-Referendum eine große Rolle. Seitdem hat jedoch ein grundlegender Wandel stattgefunden. Während rund 30 Prozent der Einwanderung sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus kultureller Sicht skeptisch gegenüberstehen, überwiegen für gut die Hälfte der Bevölkerung die Vorteile in beiden Bereichen die Nachteile.
In den vergangenen Jahren sei der Anteil der Skeptiker leicht gestiegen. Trotz der deutlich höheren Zahl an Migranten gehöre Einwanderung für die Bevölkerung nicht mehr zu den drei wichtigsten Themen, so Ford.
Besonders deutlich wird die Bedeutung in Bereichen wie Medizin und Pflege, aber auch beispielsweise bei der Ernte. „Zum ersten Mal sehen wir (in Umfragen, Hrsg.) Es gibt mittlerweile eine beträchtliche Zahl von Menschen, die glauben, dass wir nicht genügend Migranten ins Land lassen.“