Im Westen wird darüber debattiert, wie weit die Ukraine schießen darf. Angesichts neuer russischer Raketen beginnen die USA ihre Position zu hinterfragen.
Berlin – „Absurd“, sagt Norbert Röttgen zu Wladimir Putins Drohungen gegenüber der Nato. Russland droht mit harten Konsequenzen, sollte die Ukraine mit westlichen Langstreckenwaffen angegriffen werden. Der CDU-Politiker im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags veröffentlichte seine Meinung auf seiner Facebook-Seite: „Unsere Unterstützung für die Ukraine steht im Einklang mit dem Völkerrecht und dient der Wiederherstellung des Friedens in Europa. Das gilt auch für militärische Ziele auf russischem Territorium“, wofür ihn einige Kommentatoren als Kriegstreiber denunzieren. Der Oppositionspolitiker steht allerdings auf Linie der Bundesregierung.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist der Ansicht, das Völkerrecht sei gewahrt, wenn einzelne NATO-Partner der Ukraine erlaubten, die von ihnen gelieferten Waffen gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen – zum Beispiel ATACMS-Raketen. Die USA und Großbritannien stünden in Bezug auf die von ihnen gelieferten Waffen „frei darüber zu entscheiden“, sagte Pistorius als Mitteldeutscher Rundfunk (MDR) gemeldet. Dies sei deren Sache, sagte der SPD-Politiker. „Das Völkerrecht erlaubt das.“
USA wollten „Himmel und Erde“ in Bewegung setzen – Selenskyj wartet darauf
Der Einsatz westlicher Waffen ist seit der Verlangsamung des russischen Vormarsches in der Ostukraine, aber nicht seiner Beendigung, ein schwelender Streitpunkt zwischen allen drei beteiligten Parteien. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird nicht müde, seine westlichen Unterstützer für ihr Zögern zu geißeln und zu sagen, das Schicksal der freien Welt hänge davon ab. Doch zu Beginn eines Treffens von mehr als 40 Staaten im deutschen Ramstein im April 2022 kündigte US-Verteidigungsminister Lloyd James Austin an, er wolle „Himmel und Erde“ in Bewegung setzen, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) gemeldet hatte.
„Es wäre geradezu absurd, wenn ein Aggressorstaat darauf vertrauen könnte, aus einer sicheren Zone jenseits der Grenze gefahrlos Angriffe starten zu können und sich dabei stets auf einen sicheren Rückzugsort im eigenen Land verlassen zu können. Das würde jeder Logik der Selbstverteidigung widersprechen.“
Angesichts des stetigen russischen Vormarsches scheint Selenskyj genau darauf zu warten. Deutschland hält sich bedeckt – was an der Ablehnung der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) deutlich wird. Für die Invasion russischen Territoriums bei Kursk soll die Ukraine von Deutschland gelieferte Schützenpanzer vom Typ Marder eingesetzt haben. Die Haltung der Bundesregierung ist eindeutig.
„Wir sind gemeinsam davon überzeugt, dass die Ukraine nach internationalem Recht das Recht hat, sich gegen diese Angriffe zu verteidigen. Dazu kann sie im Einklang mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen die hierfür gelieferten Waffen einsetzen, auch die von uns gelieferten“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit Ende Mai. Das Recht auf Verteidigung erstrecke sich nach Ansicht von Völkerrechtlern über territoriale Grenzen hinaus, auch die Herkunft der eingesetzten Waffen dürfte keine Rolle spielen.
Einsatz deutscher Waffen gegen Putin im Ukraine-Krieg ohne völkerrechtliche Bedenken
Wie das Bundesverteidigungsministerium mitteilte, betrifft die Frage der großen Reichweite nur Länder, die diese konkreten Waffen oder Munitionsarten geliefert haben. Deutsche Systeme seien aufgrund ihrer geringeren Reichweite ausgeschlossen. Deshalb bestehe auch kein Bedarf für Einschränkungen durch die Bundesregierung. Die Ampelkoalition hatte ihr Vorgehen bereits im Mai des ersten Kriegsjahres völkerrechtlich eingestuft. Damals war lediglich die Frage der Rechtmäßigkeit von Waffenlieferungen zur Debatte gestanden.
„Entscheidungen über den Export von Kriegswaffen und bestimmten hochwertigen Gütern, die für die Ukraine zur Unterstützung ihrer legitimen Selbstverteidigung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg bestimmt sind, werden derzeit regelmäßig auf Leitungsebene des Bundeskanzleramts und der betroffenen Ministerien getroffen. Dies entspricht der Dringlichkeit der aktuellen Lage. Aus Sicht der Bundesregierung erfolgen die Lieferungen im Einklang mit geltendem Völkerrecht“, erklärte die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Susanne Baumann, auf eine Anfrage des Parlaments.
„Siegesplan für die Ukraine“ enthält attraktive Ziele im Kerngebiet Russlands
Präsident Selenskyj hatte jedoch mehrfach dazu aufgerufen, russische Raketenangriffe einzustellen, wobei auch Angriffe auf russische Abschussbasen im russischen Hinterland im Spiel sein sollten. Selenskyjs Stabschef Andriy Yermak hatte vor wenigen Tagen in Washington eine Liste möglicher Ziele vorgestellt, etwa die Hamburger Abendblatt aktuell berichtet. Dabei soll es sich um den „Siegesplan für die Ukraine“ handeln, wie Selenskyj es ausgedrückt haben soll.
Die Reaktion des Kremls besteht in der Drohung, dass die USA, die NATO und die Europäer durch den Einsatz ihrer Waffen einen Krieg mit Russland beginnen würden, wie die Hamburger Abendblatt Deutschland würde zur Kriegspartei, „wenn wir – natürlich nur hypothetisch – aktiv in den Krieg eingreifen würden, also etwa uniformierte deutsche Soldaten Seite an Seite mit ukrainischen Soldaten kämpfen würden“, sagt Marco Buschmann (FDP). Der Bundesjustizminister hielt die völkerrechtliche Position Deutschlands bereits im Mai 2022 für gesichert, wie er auf seinem Ministeriumsportal veröffentlichte.
Zurückhaltung gegenüber Putin „widerspricht jeder Logik der Selbstverteidigung“
„Wenn wir aber die Ukraine dabei unterstützen, sich zu verteidigen, etwa durch Waffenlieferungen, weil sie zu Unrecht angegriffen wurde, werden wir nicht zur Kriegspartei“, so Buschmann. Russland dürfe kein „Rückzugsgebiet im eigenen Land“ für sich beanspruchen, sagt Matthias Herdegen gegenüber dem Rechtsmagazin Legal Tribune Online: „Es wäre geradezu absurd, wenn ein Aggressorstaat darauf vertrauen könnte, aus einer sicheren Zone jenseits der Grenze gefahrlos Angriffe starten zu können und sich dabei stets auf einen sicheren Rückzugsort im eigenen Land verlassen zu können.“
Dies widerspreche „jeder Logik der Selbstverteidigung“, sagte der Völkerrechtsprofessor der Universität Bonn. Ein Schützenpanzer vom Typ Marder könne keine rechtliche Grundlage für einen Angriff bieten; davon sei auch die Bundesregierung zu Beginn des Ukraine-Kriegs überzeugt gewesen.
Es fehle jedoch „an einem Bewusstsein für die historische Bedeutung dieses Konflikts und für die zentrale Rolle, die Deutschland dabei spielen muss“, kritisiert Ralf Fücks gegenüber der ZDFDer geschäftsführende Gesellschafter des Thinktanks „Zentrum Liberale Moderne“ beklagt, dass dem Westen noch immer jegliches Ziel fehle. Angesichts der fehlenden Aussicht auf ein baldiges Kriegsende forderte Fücks, die Beschränkungen für den Einsatz westlicher Waffen ein für alle Mal aufzuheben.
Wieder MDR Er lasse sich von russischen Drohungen nicht einschüchtern, zitierte der deutsche Verteidigungsminister. „Putins Drohungen sind Putins Drohungen. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Er droht, wann er will, und lockt, wann er es für richtig hält.“ Laut dem Sender erklärte Pistorius, Putin habe in den vergangenen Jahren immer wieder gedroht. Ziel sei es, westliche Staaten davon abzuhalten, die Ukraine zu unterstützen. Dafür müssten sie der Ukraine allerdings alles zur Verfügung stellen, was sie für die Rückeroberung ihres Territoriums brauche.
Einsatz von F-16-Flugzeugen im Ukraine-Krieg als klares Beispiel für leere russische Drohungen mit roten Linien
Zuletzt hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor dem Einsatz westlicher F-16-Kampfjets gewarnt. Allein ihre Fähigkeit, Atomwaffen zu tragen, sei seiner Ansicht nach ausreichend, um eine rote Linie zu überschreiten. Zwar ist nachgewiesen, dass die F-16 Angriffe geflogen haben, eine drastische russische Reaktion blieb jedoch aus. Ein weiterer Grund für eine Revision der westlichen Taktik könnte die derzeitige Aufrüstung Russlands sein.
Das Magazin Forbes berichtete, dass Russland gerade 200 ballistische Fateh-360-Raketen aus dem Iran erhalten habe. Dies würde eine Eskalation des Krieges in der Ukraine bedeuten – „und könnte für Russland nach hinten losgehen“, wie Forbes schreibt. Die anhaltende Zurückhaltung des Westens gegenüber Russland mag dann zwar „absurd“ erscheinen, wie CDU-Politiker Röttgen flapsig urteilt; zumindest aber wird ihre Logik dann fragwürdig – was die Amerikaner inzwischen wohl auch so sehen. Laut Forbes Antony Blinken räumte ein, dass die Ankunft dieses Fateh-360 zumindest eine weitere Diskussion über die Beschränkungen rechtfertige.
Laut dem Nachrichtensender NBC Die US-Außenministerin sprach jedenfalls hinsichtlich der Lieferung iranischer Raketen an die russischen Invasionstruppen von einer „dramatischen Eskalation“.