
Zehn Jahre ist es her, dass Schottland beinahe unabhängig geworden wäre: Bei einem Referendum votierte nur eine knappe Mehrheit für den Status Quo. Seitdem ist der Ruf nach Unabhängigkeit deutlich leiser geworden.
„Wir werden diesen historischen Sieg erringen“, jubelte die Unabhängigkeitsbewegung am Abend vor dem Referendum in Glasgow vor zehn Jahren. Im September 2014 kam es in ganz Schottland zu hitzigen Debatten, auch in einem Bowlingcenter in Edinburgh. Die Frage, die sich alle stellten, war: Seid ihr für „Nein“ – wollt ihr lieber im Vereinigten Königreich bleiben? Oder seid ihr für „Ja“ – die schottische Unabhängigkeit?
Schottland dürfe sich von der britischen Regierung in Westminster nicht länger einschüchtern lassen, meinen die Befürworter. Das Land sei wirtschaftlich stark genug, um es allein zu schaffen, sagte damals ein Bowler. Die Gegner halten einen Austritt für zu riskant. Zu viele Fragen seien unbeantwortet, sagt ein anderer Spieler: „Mir scheint, die Anhänger hoffen und beten, dass alles gut geht. Aber in unserer globalisierten Welt ist das Risiko zu groß.“
Erleichterung in Westminster
Wie sehr das Thema die schottische Bevölkerung bewegt, zeigt die hohe Wahlbeteiligung von 85 Prozent. Das Ergebnis fiel in den Morgenstunden des 19. September 2014. Mit einer Mehrheit von 55 Prozent lehnten die Schotten den Schritt in die Unabhängigkeit ab.
In der britischen Regierung in Westminster macht sich Erleichterung breit. Der konservative Premier David Cameron hatte sich für einen Verbleib der Schotten in der EU stark gemacht, erklärte aber, er werde das Ergebnis respektieren.
In Edinburgh hingegen tritt Premier Alex Salmond von der Scottish National Party (SNP), die sich für das Referendum eingesetzt hatte, zurück: „Meine Zeit ist vorbei, aber nicht die Schottlands. Der Wahlkampf geht weiter, der Traum wird niemals sterben.“
Bei den britischen Parlamentswahlen 2015, ein Jahr nach dem Referendum, errang die SNP einen Erdrutschsieg und gewann 56 der 59 schottischen Sitze. Und sie widersetzte sich der Regierung in Westminster, indem sie der Regionalregierung in Edinburgh mehr politische Macht übertrug. Dazu gehört die Festlegung von Steuern und eine Garantie der Souveränität für das schottische Parlament – verankert im Scotland Act von 2016.
Leistungssteigerung für kurze Zeit
Doch die Freude über den Machtzuwachs währt nicht lange, erklärt Verfassungsrechtlerin Aileen McHarg von der Durham University: „Die Brexit-Entscheidung beim Referendum 2016 macht es sehr schwer, den Regionalregierungen – etwa in Schottland und Wales – die Macht zu überlassen.“ Diese hätten seitdem an Souveränität verloren. „Die Zentralregierung in London hat sie inzwischen viel deutlicher wieder auf Linie gebracht, auch aus wirtschaftlichen Gründen.“
Salmonds Nachfolgerin als SNP-Parteivorsitzende und Premierministerin, Nicola Sturgeon, lebt weiter für den Traum von der Unabhängigkeit. Sie drängt auf ein zweites Referendum im schottischen Parlament. Doch Westminster lehnt sie ab – noch nicht. Die schottische Regierung ruft dennoch zu einer Abstimmung am 19. Oktober 2023 auf.
„Die Regierung will das Referendum ohne die Zustimmung Westminsters abhalten. Doch der Oberste Gerichtshof verbietet dies“, erklärt McHarg. Das schottische Parlament habe nicht die Befugnis, ein Referendum allein abzuhalten.
Diese Entscheidung bedeutet vorerst das Ende der Unabhängigkeitsbewegung. Ohne die Kooperation Westminsters wird es keine weiteren Referenden geben.
Andere Zeiten, andere Prioritäten
Die politische Landschaft Schottlands hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Die Glanzzeit der SNP ist vorbei, die Partei ist durch Finanzskandale und Personalprobleme an der Spitze geschwächt.
Bei der britischen Parlamentswahl im Mai war Labour in Schottland stärkste Kraft geworden. Der Wunsch nach Unabhängigkeit sei in Schottland zwar noch immer stark, sagt Verfassungsrechtler McHarg, aber er habe an Dringlichkeit verloren: „Die Priorität ist auch bei den Anhängern gesunken.“
Zwar wolle rund die Hälfte der Schotten noch immer die Unabhängigkeit, doch derzeit hätten andere Themen wie der Brexit, die Corona-Pandemie oder die hohen Lebenshaltungskosten Priorität. „Einige würden natürlich trotzdem gerne sofort unabhängig werden, aber das gilt längst nicht für alle Befürworter.“
Gabi Biesinger, ARD London, tagesschau, 18.09.2024 14:00