Autogigant VW droht mit der Schließung seiner Fabriken. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem höchsten Stand seit Corona. Statt minimalem Wachstum droht in diesem Jahr Nullwachstum. Deutschland steckt noch immer mitten in der Wirtschaftskrise.
Und wer trägt die Schuld? Wirtschaftsminister Robert Habeck? Die Ampelkoalition allgemein? Sicherlich. Aber nicht nur das. Denn es gibt noch einen weiteren mächtigen Mann, der großen Einfluss auf die Wirtschaft hat. Über ihn wird aber nicht so oft gesprochen wie über Robert Habeck oder Bundeskanzler Olaf Scholz. Sein großer Einfluss wird unterschätzt. Dabei verdient er eine halbe Million Euro im Jahr – mehr als Habeck und Scholz! – und steht an der Spitze der wichtigsten Bank des Landes: der Deutschen Bundesbank. Sein Name: Joachim Nagel.
Seit 2022 steht Nagel an der Spitze der deutschen Notenbank, wo er zuvor 17 Jahre lang tätig war. Den Job bekam er, weil Bundeskanzler Scholz ihn dafür nominierte. Dieses Vorschlagsrecht hatte sich die SPD in den Koalitionsverhandlungen gesichert. Schließlich ist Nagel ein SPD-Parteikollege von Olaf Scholz.
Hohe Zinsen würgen die deutsche Wirtschaft ab
Als Notenbankchef ist Nagel für Inflation und Zinsen zuständig. Natürlich nicht allein, sondern gemeinsam mit den Chefs der anderen EU-Notenbanken und der Europäischen Zentralbank (EZB) selbst. Die Bundesbank ist die mächtigste nationale Notenbank der Eurozone. Und Nagel ist damit der mächtigste Notenbanker – neben EZB-Chefin Christine Lagarde. Was Nagel sagt, hat Gewicht. Viel mehr als seine formellen Stimmrechte im EZB-Rat.
Und die Zinsen, so zeigt sich, sind für Deutschland viel zu stark angehoben worden. Sie stiegen innerhalb eines Jahres im Rekordtempo von null auf 4,5 Prozent. Das hat großen Schaden angerichtet, weil Kredite teurer wurden und Investitionen gebremst wurden. Am besten lässt sich das beim Wohnungsbau beobachten: Die Bauzinsen kletterten von einem auf über vier Prozent und sind so hoch wie seit 13 Jahren nicht mehr, während die Baugenehmigungen für Neubauten seit 2022 im freien Fall sind und so niedrig wie 2011. Und das, obwohl in Deutschland akuter Wohnungsmangel herrscht. Häuslebauer, die unter der hohen Zinslast ächzen, müssen auf Joachim Nagel wütend sein, nicht auf Robert Habeck.
Nagel hatte 2022 und 2023 wie kein anderer Notenbankchef auf drastische Zinserhöhungen gedrängt. Um „das gierige Biest Inflation zu erlegen“, rechtfertigte sich Nagel im Sommer 2023 in einem n-tv-Interview. Zweimal senkte die EZB seitdem den Leitzins, von 4,5 auf vier Prozent, zuletzt erst vergangenen Donnerstag. Weil die Inflation längst wieder unter Kontrolle ist. Deutschlands Inflationsrate lag im August bei 1,9 Prozent, die der Euroländer insgesamt bei 2,2 Prozent, also ziemlich nah am Ziel von zwei Prozent. Und weil die europäische Wirtschaft im zweiten Quartal nur magere 0,2 Prozent wuchs (weniger als erwartet). Die deutsche Wirtschaft schrumpfte sogar um 0,1 Prozent.
Die Inflation ist längst vorbei, die Wirtschaft aber am Boden. Die Zinserhöhungen waren offensichtlich übertrieben. Zumal der Einfluss der Zinsen auf die Inflation ohnehin fraglich war. Die Preise wurden durch den Krieg und die explodierenden Energiepreise getrieben, nicht durch einen Wirtschaftsboom und zu viel Nachfrage.
So falsch waren die Prognosen der Bundesbank
Es stellt sich die Frage: Warum beharrte Nagel so sehr auf Zinserhöhungen? Die unbequeme Antwort: Weil die Bundesbank völlig falsche Prognosen hatte!
Im Juni 2022, als der Krieg in der Ukraine bereits seit drei Monaten dauerte, die Zinsen aber noch niedrig waren, rechnete die Bundesbank für 2024 noch mit 2,4 Prozent Wachstum und 4,5 Prozent Inflation. Im Dezember 2022, als die Zinsen bereits von null auf zwei Prozent angehoben worden waren, rechnete die Bundesbank für 2024 noch mit 1,7 Prozent Wachstum und 4,1 Prozent Inflation.
Und selbst im Juni 2023, als die Zinsen bereits auf vier Prozent hochgeschraubt waren, zeigte die Bundesbank-Prognose 1,2 Prozent Wachstum und 3,1 Prozent Inflation. „Noch keine Entwarnung bei der Inflation“, sagte Nagel damals in der Pressemitteilung, bevor er und seine Kollegen im EZB-Rat noch zwei weitere Zinserhöhungen durchsetzten. Obwohl schon lange alles auf ein Ende der Inflation hindeutete: Energiepreise sanken, Importpreise sanken, Erzeugerpreise sanken, der Anstieg der Verbraucherpreise verlangsamte sich. Erst im Dezember 2023 kam die Bundesbank der Realität näher und prognostizierte ein Miniwachstum von 0,4 Prozent und eine Inflation von 2,7 Prozent. Und selbst das wird zu hoch sein. Es wird kein Wachstum geben und die Inflation wird deutlich darunter liegen.
Wo ist die Entschuldigung, Herr Nagel?
Die Bundesbank hat Wachstum und Inflation fundamental überschätzt und deshalb die Zinsen höher getrieben als nötig. Den Preis dafür zahlen Häuslebauer und Unternehmen mit zu hohen Zinsen, Industriearbeiter in Kurzarbeit und Arbeitslose mit Einkommenseinbußen – und eigentlich wir alle mit Einbußen an gesamtwirtschaftlichem Wohlstand. Das alles ist nicht allein Joachim Nagels Schuld, aber es ist auch seine Schuld.
Das Anständige wäre, sich dafür zu entschuldigen. Wer einen so hohen Posten innehat und eine halbe Million Euro im Jahr aus der Staatskasse erhält, ist der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig. Oder etwa nicht? Und überhaupt: Warum ist der Mann, der mitbestimmt, wie teuer Geld ist, noch nie in einer Talkshow aufgetreten?
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