
Weißrussland als „Putins Dessert“?
Lukaschenko setzt auf massive Russifizierung
16.09.2024, 13:42
Artikel anhören
Diese Audioversion wurde künstlich erzeugt. Mehr Infos | Feedback senden
Ob Sprache, Symbole oder kulturelle Institutionen: Moskau löscht die belarussische Identität schon lange aus, seit 2022 tut es das immer stärker. „Für mich ist klar, dass unser Weißrussland besetzt ist“, klagt Literaturnobelpreisträger Alexijewitsch. Analyst Friedman sagt: „Der Kreml scheut keine Kosten und agiert im großen Stil.“
Seit diesem Schuljahr trägt Mikalaj einen anderen Namen. Die Lehrer an seiner Schule in Weißrussland nennen den 15-Jährigen jetzt „Nikolai“. Das ist die russische Variante. Auch die Unterrichtssprache hat sich geändert. Mikalaj – oder Nikolai – muss jetzt Russisch statt Weißrussisch sprechen.
„Es ist offensichtlich, dass unseren Kindern gezielt ihre Muttersprache, ihre Geschichte und ihre belarussische Identität genommen werden“, sagt Mikalajs Vater, der aus Angst vor Konsequenzen nur seinen Vornamen Anatoli nennen will. „Aber uns Eltern wurde dringend geraten, keine Fragen zur Russifizierung zu stellen.“
Mikalajs Schule gehört zu den besten des Landes. Wie im Bildungssystem erlebt Belarus auch in Wirtschaft, Politik und Kultur einen allumfassenden russischen Einfluss.
Dies ist nicht das erste Mal, dass die belarussische Identität unterdrückt wurde. Während der Zarenzeit und der Sowjetunion zwang Russland dem Land seine Sprache, Symbole und kulturellen Institutionen auf. Mit dem Ende der UdSSR im Jahr 1991 begann das Land jedoch, seine Identität neu zu bekräftigen. Belarussisch wurde zur offiziellen Landessprache und die weiß-rot-weiße Nationalflagge ersetzte die Flagge aus der Sowjetzeit.
Rückkehr zu sowjetischen Symbolen unter Lukaschenko
Die Phase war jedoch nur von kurzer Dauer. Als Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht kam, machte er neben Weißrussisch Russisch zur offiziellen Amtssprache und schaffte die nationalen Symbole ab. Die 1995 eingeführte Flagge sieht fast aus wie die aus der UdSSR-Zeit – nur dass Hammer und Sichel fehlen.
Mittlerweile ist der autokratische Lukaschenko seit mehr als drei Jahrzehnten an der Macht. Er ist ein treuer Verbündeter des Kremls und hat dem Einfluss des großen Nachbarn Tür und Tor geöffnet. Auf den Straßen der Hauptstadt Minsk ist Weißrussisch mittlerweile kaum noch zu hören. Offizielle Geschäfte werden auf Russisch abgewickelt, was auch in den meisten Medien die dominierende Sprache ist.
Weißrussland ist auf russische Kredite und billige Energielieferungen angewiesen. Die Regierung in Minsk hat sich politisch und militärisch mit Moskau verbündet. Das ermöglicht dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, für seinen Krieg gegen die Ukraine Truppen und Waffen in Weißrussland zu stationieren.
„Für mich ist klar, dass unser Weißrussland besetzt ist“, klagt die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Die Nation werde gedemütigt, sagt die im deutschen Exil lebende Schriftstellerin. „Und es wird für die Weißrussen sehr schwer sein, sich davon zu erholen.“
„Die russische Sprache ist meine Sprache“
Die konsequente Durchsetzung des Russischen ist ein Aspekt. Lukaschenko berichtete einst in russischen Staatsmedien, Putin habe ihm dafür gedankt. Er habe geantwortet: „Die russische Sprache ist meine Sprache.“ Daher sei das nur natürlich gewesen. Lukaschenko soll auch Äußerungen getätigt haben wie: „Auf Belarussisch kann man nichts Großes ausdrücken.“
Schon zu Sowjetzeiten war der alltägliche Gebrauch der belarussischen Sprache rückläufig und wurde noch immer hauptsächlich im Westen und Norden des Landes sowie in ländlichen Gebieten gesprochen. Trotzdem wurden 1994 noch etwa 40 Prozent der Schüler auf Weißrussisch unterrichtet. Heute liegt die Zahl bei etwa 9 Prozent. Und obwohl Weißrussisch wie Russisch eine ostslawische Sprache ist, unterscheidet sich der Wortschatz erheblich.
„Die belarussische Sprache wird zunehmend als Zeichen politischer Illoyalität wahrgenommen und in der öffentlichen Verwaltung, im Bildungswesen, in der Kultur und in den Massenmedien zugunsten des Russischen aufgegeben, auf Anordnung der Hierarchie oder aus Angst vor Diskriminierung“, sagte die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in Belarus, Anaïs Marin.
Gleichzeitig sei Weißrussisch zu einem „Symbol der Freiheit“ geworden, sagt Autorin Alina Nahornaja. Immer mehr Menschen wollten Weißrussisch sprechen, hätten aber Angst, dies in der Öffentlichkeit zu tun. Mikalajs Schule war zuletzt eine der wenigen im Land, in der einige Fächer noch auf Weißrussisch unterrichtet wurden.
„Der Kreml scheut keine Kosten“
In vier weißrussischen Städten gibt es inzwischen „Russlandhäuser“, die die Kultur und den Einfluss Russlands fördern sollen. Angeboten werden Seminare, Filmclubs, Ausstellungen und Wettbewerbe. „Ziel ist es, russische Narrative zu etablieren, damit möglichst viele Weißrussen das Russische als ihr eigenes akzeptieren“, sagt Analyst Alexander Friedman. „Der Kreml scheut keine Kosten und operiert im großen Stil.“ In einer Situation der Informationsisolation wie in Weißrussland könne das besonders effektiv und gefährlich sein.
2021 habe Putin einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Existenz einer unabhängigen Ukraine leugne, ergänzt der ehemalige Direktor des belarussischen Janka-Kupala-Theaters, Pavel Latushka, der heute als Oppositioneller im Exil lebt. „Schon damals war uns klar, dass er in Belarus ähnliche Ziele verfolgt“, sagt Latushka über Putins Ambitionen. „Das Hauptgericht sollte die Ukraine sein“, erklärt er, und ein russifiziertes Belarus „der Nachtisch“.