Als die Deutschen ein Dorf seiner Männer beraubten

Als die Deutschen ein Dorf seiner Männer beraubten

Als der Eier- und Geflügelhändler Teunis de Graaf am Morgen des 1. Oktober 1944, einem Sonntag, am Rande von Putten ins Gebüsch flüchtet, kann er sich kaum vorstellen, welche Verbrechen die Deutschen an diesem Tag in seiner Heimatstadt begehen. Er selbst war an diesem Morgen gewarnt worden, wie alle Männer, die in die Kirche gehen wollten. Er solle nicht dorthin gehen, die Deutschen hätten etwas vor. Als er und seine Freunde durch trockene Schützengräben aus der Stadt fliehen, schießen die Deutschen auf sie. Und als sich de Graaf und die anderen dann im Grünen am Rande der Stadt verstecken, können sie von dort aus sehen, wie die Besatzer nun vorgehen: Auf dem nicht weit entfernten Bauernhof treiben sie die Bewohner zusammen. Und als eine junge Frau, Hendrika van Beek, gerade 28 Jahre alt, in Panik gerät und zu fliehen versucht, erschießen die Deutschen sie einfach.

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Und das ist erst der Anfang.

Es ist Teunis de Graafs Sohn, Evert Hendrik de Graaf, heute 78 Jahre alt, der diese Geschichte erzählt. Und auch er hat davon nur indirekt erfahren. „Mein Vater hat nie mit mir über den Überfall und seine Erlebnisse gesprochen“, sagt er. Was er weiß, hat er aus Gesprächen erfahren, die er als Kind und Teenager mitbekommen hat, „wenn andere Überlebende uns besuchen kamen“.

Ein wenig bekanntes Kapitel der Besatzung

Lange Zeit, und auch das ist typisch für Putten, wurde über dieses Verbrechen geschwiegen – vor allem von Seiten der Zeugen.

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Der Putten-Angriff, eine Strafaktion von Wehrmacht und SS in den letzten Kriegsmonaten, ist ein wenig bekanntes Kapitel deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Auslöser war ein Angriff niederländischer Widerstandskämpfer auf ein Fahrzeug deutscher Offiziere in der Nacht zuvor, bei dem ein deutscher Soldat starb und ein weiterer verletzt wurde. Als Reaktion darauf trieben die Deutschen die männlichen Bewohner von Putten, einer 10.000-Einwohner-Stadt 60 Kilometer östlich von Amsterdam, in einer Kirche zusammen und brachten sie am nächsten Tag nach Amersfoort weiter, von wo sie in Konzentrationslager nach Norddeutschland deportiert wurden. Einen Teil der Stadt steckten sie in Brand. Die Bilanz des Angriffs war verheerend: Von den etwa 600 deportierten Männern kamen 540 in den Konzentrationslagern ums Leben, mehr als 100 Häuser der Stadt wurden zerstört. Nach dem Krieg bezeichneten Zeitungen den Ort als das „Oradour der Niederlande“ – in Anlehnung an das Dorf in Frankreich, das SS-Männer wenige Monate zuvor dem Erdboden gleichgemacht hatten.

Trägt die Namen seiner ermordeten Onkel: Evert Hendrik de Graaf aus Putten.

Trägt die Namen seiner ermordeten Onkel: Evert Hendrik de Graaf aus Putten.

Seine Bedeutung verdankt der Fall allerdings nicht nur dem Ausmaß des Grauens – sondern auch der besonderen Geschichte der Versöhnung nach dem Krieg. „Historiker erforschen unendlich viel darüber, wie Dinge auseinanderfallen“, sagt der Historiker Thomas Weber, Professor an der Universität Aberdeen in Schottland, „aber selten, wie sie wieder zusammengefügt werden und vor allem, warum das in einem Kontext funktioniert und in einem anderen nicht.“ Doch Putten ist ein besonders anschauliches Beispiel genau dafür: wie kurz nach Kriegsende Menschen, die sich gerade noch als Feinde betrachtet hatten, wieder zusammengeführt wurden. Und das geschah im sogenannten Bibelgürtel der Niederlande, einem Streifen strengen Glaubens, wo der Calvinismus das Leben prägt, einem konservativen, ländlichen Milieu.

Auch Teunis de Graaf ist ein religiöser Mensch. Wie die meisten Menschen in der Stadt gehört er nicht zum Widerstand, leistet den Besatzern aber auf seine Weise Widerstand. Zeitweise verstecken er und seine Frau zwei jüdische Kinder in ihrem Haus, einen Jungen und ein Mädchen, Geschwister.

Die Rache sollte verheerend sein

Anlass des deutschen Racheangriffs war ein Attentat, das heute weitgehend als gescheitert gilt. Acht Männer hatten am Abend des 30. September ein deutsches Auto in einen Hinterhalt gelockt und auf einer Brücke bei Putten zum Stehen gebracht. Bei der darauffolgenden Schießerei wurde nur einer der vier Deutschen tödlich getroffen, ein weiterer verletzt – zudem kam einer der Widerstandskämpfer ums Leben.

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Die Rache, so beschlossen die Deutschen, würde verheerend sein: „Das ganze Nest muss angezündet und die ganze Bande an die Wand gestellt werden“, tobte der Wehrmachtskommandeur in den Niederlanden, General Friedrich Christiansen. Also umstellte die Wehrmacht die Stadt und trieb nach und nach die Männer zwischen 18 und 50 Jahren aus einer Schule zusammen, die Frauen und Kinder in einer der Kirchen. Letztere wurden am Abend mit der Anweisung freigelassen, den Männern Essen und Trinken für den Transport am nächsten Tag zu bringen.

Deportation in den Tod: Ein Holzschnitt zeigt deutsche Soldaten, die die Männer aus Putten wegführen.

Gegen Abend des 1. September steckten die Deutschen die ersten Häuser in Brand. Am nächsten Tag mussten sich die Männer in Fünferreihen auf dem Marktplatz aufstellen. Dann führte sie ein SS-Bataillon zum Bahnhof, von wo aus sie zunächst ins Polizeilager Amersfoort und von dort elf Tage später ins Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg deportiert wurden. Auf dem Weg dorthin profitierten 13 Männer von einem letzten Akt des Widerstands: Der Lokführer fuhr zeitweise absichtlich so langsam, dass sie aus dem Zug springen und sich retten konnten. Doch für die überwiegende Mehrheit war es eine Reise ohne Wiederkehr. Allein 110 Männer starben im Außenlager Ladelund nahe der dänischen Grenze, wo die Häftlinge beim Bau von Sperren gegen einen vermuteten alliierten Angriff zu Tode gefoltert wurden. Nur 48 Männer kehrten nach dem Krieg nach Putten zurück.

Einer von denen, die nicht zurückkehrten, war Evert de Graaf, damals 45 Jahre alt und von Beruf Landwirt. Er wurde am 29. Oktober 1944 in Wedel, heute Schleswig-Holstein, zu Tode geprügelt, als er es wagte, seine Wächter um etwas Kohlsuppe zu bitten. Und einer von ihnen war Hendrik de Boer, gerade 24 Jahre alt, Buttermacher in einer Molkerei, der im Dezember 1944 in Ladelund starb. Als Teunis de Graaf, der Mann, der sich während des Überfalls im Gebüsch vor den Deutschen verstecken konnte, ein Jahr nach Kriegsende Vater eines Sohnes wurde, benannte er ihn nach diesen beiden Männern: seinem Bruder und dem Bruder seiner Frau. Eine Erinnerung an die Opfer des Überfalls. So kam Evert Hendrik de Graaf zu seinem Namen: Es sind die Namen seiner toten Onkel. Dies, sagt er heute, habe sein Leben geprägt. Als seine Großmutter vier Jahre nach Kriegsende in ihrem Trauerkleid Modell stand für das Denkmal in der Stadt, die „Dame von Putten“, war dies ein weiteres Zeichen. „Es gab mir das Gefühl“, sagt de Graaf heute, „dass ich diese Geschichte weitertragen sollte. Ich sah das als meine Mission.“

Auf dem Weg vor Gericht: General Friedrich Christiansen hatte den Befehl zur Vergeltungsaktion in Putten gegeben. Er wurde 1948 in Arnheim zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber nach drei Jahren frei.

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Schon 1950 fuhren Puttener mit drei Bussen nach Ladelund, dem Ort im hohen Norden Deutschlands, in dem 110 Puttener ums Leben kamen. Die Besucher aus den Niederlanden waren noch vorsichtig, wollten zum Beispiel nicht in Deutschland übernachten und fuhren ins nahe Dänemark. 13 Jahre später reiste zum ersten Mal eine Ladeler Jugendgruppe nach Putten, trotz der Skepsis mancher Dorfbewohner. Im Jahr darauf fuhren zum ersten Mal Puttener Jugendliche nach Ladelund – und auch dort stießen sie auf Spuren einer unbewältigten Vergangenheit. Sie entdeckten, dass die Hauptstraße in Wyk auf Föhr nach General Christiansen benannt war, der die Zerstörung Puttens angeordnet hatte. Sie protestierten vehement – ​​doch erst 1980, lange nach Christiansens Tod, wurde die Straße umbenannt.

Evert Hendrik de Graaf, ein Jahr nach Kriegsende geboren, war noch ein Kind, als die ersten Versöhnungsbemühungen begannen. In den Niederlanden war der Putten-Überfall damals kaum ein Thema, in Schul- und Geschichtsbüchern fand er lange keine Erwähnung, und auch in seiner Familie waren die Verbrechen kein Thema, zumindest nicht in Gesprächen mit ihm. De Graaf war 21, als sein Vater 1967 starb. „Dass ich nie mit ihm über den Überfall gesprochen habe, stört mich noch heute“, sagt er.

Nach dem Vorbild der Großmutter von Evert Hendrik de Graaf: Die „Frau von Putten“, hier bei der Einweihung durch Königin Juliana 1949, soll an die deutschen Verbrechen erinnern.

Umso engagierter ist er aber, das Reden über Putten und die Versöhnung zu seinem Lebensthema zu machen. Evert Hendrik de Graaf studiert Geschichte und wird Lehrer. Als stellvertretender Bürgermeister und Vorsitzender der Stiftung Oktober 44 knüpft er Kontakte zu anderen Orten deutscher Verbrechen, etwa Lidice in Tschechien oder Oradour-sur-Glane in Frankreich – und sorgt dafür, dass die Verbindung zwischen Putten und dem deutschen Ladelund auch für die jüngere Generation ausgebaut wird. Die Aufgabe der Geschichtsvermittlung hat er zu seinem Lebensinhalt gemacht.

Frühe Versöhnung

Dass die Versöhnung zwischen Putten und den Deutschen so früh, viel früher als anderswo, gelang, hat für de Graaf vor allem einen Grund: „Ohne die Rolle der Kirche und unseres Glaubens wäre dies nicht möglich gewesen.“ Doch für den Historiker Thomas Weber ist das noch keine ausreichende Erklärung. „Es liegt“, ist er überzeugt, „auch immer an den einzelnen Menschen.“ Menschen wie den Ladelunder Pfarrer Johannes Meyer zum Beispiel: Während des Krieges predigte er als zumindest nach außen hin überzeugter Nazi von der Kanzel für den Endsieg; nach dem Krieg schrieb er Briefe an die Hinterbliebenen, gewann das Vertrauen der Puttener – und predigte 1951 als erster Deutscher von der Kanzel jener Kirche, aus der die Männer sieben Jahre zuvor deportiert worden waren. Oder auch Evert Hendrik de Graaf.

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Noch heute steht Putten im Schatten anderer großer Gedenkstätten. „Viele Menschen kennen Westerbork“, sagt Jan van den Hoorn, heute Vorsitzender der Stiftung Oktober 44, über das Durchgangslager, aus dem etwa Anne Frank deportiert wurde. „Aber viele Menschen kennen Putten nicht.“ Ziel der Stiftung ist es, Wissen über Puttens Schicksal weiterzugeben – was sie unter anderem mit neuen Virtual-Reality-Brillen erreichen will, mit denen alle Schülerinnen und Schüler bei ihrem Besuch der Gedenkstätte im Ort möglichst viel über die Geschichte erfahren können, auch wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind. „Sie sollen“, sagt Jan van den Hoorn, „über das Grauen erfahren, das ihre Urgroßeltern erlebt haben.“

Das Interesse an Geschichte hat die Familie de Graaf jedenfalls an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Auch Evert de Graafs Tochter Beatrice studierte Geschichte – und ist heute Professorin an der Universität Utrecht und eine der bekanntesten Historikerinnen des Landes. „Sonntags, bei Familienfeiern, waren die Großonkel immer da, in schwarzen Anzügen und gelben Holzschuhen, und erzählten Geschichten darüber, wie das Dorf niedergebrannt und ihre Brüder und Verwandten verschleppt wurden, um nie wieder zurückzukehren“, sagt sie. Und so kam sie auf die Frage, auf die sie bis heute Antworten sucht, denn als Expertin für Radikalisierung ist sie eine gefragte Interviewpartnerin: „Wie kommen normale Menschen dazu, so grausame Taten zu begehen?“

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