„Wir haben die Aussagen von SPD und Grünen bereits einem Faktencheck unterzogen. Sie waren korrekt.“ Das teilte rbb-inforadio-Moderatorin Irina Grabowski einen Tag nach dem sogenannten Kandidatencheck der Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Brandenburg mit. Am Vorabend waren in der Potsdamer „Biosphäre“ die Spitzenleute der sieben mutmaßlich stärksten politischen Kräfte mit Blick auf die Landtagswahl befragt worden.
Auch nach der Runde, die im rbb Fernsehen ausgestrahlt wurde, kam das Thema zur Sprache: „rbb|24 hat die wichtigsten Aussagen unter die Lupe genommen.“ Der Inforadio-Moderator weiter: „Wir haben heute die Aussage von Jan Redmann, dem Spitzenkandidaten der CDU, unter die Lupe genommen.“ Und dann sind zwei junge Medienschaffende an der Reihe, die beim rbb ihr Volontariat absolvieren.
Was soll das Ganze? Kontrollierte Mediennutzung hier beim öffentlich-rechtlichen Sender? Erstens die Anmaßung, aus über 100 Sendeminuten „die wichtigsten Aussagen“ zu kennen. Und zweitens die Hybris, diese angeblich wichtigsten Aussagen der sieben Topmanager auch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können.
Dabei war „Fact-Checking“, die Überprüfung öffentlicher Äußerungen auf ihren Wahrheitsgehalt, früher etwas Aufklärerisches, auf Kritik, Kontrolle und Korrektur der gesellschaftlichen Elite gerichtet, wie unter anderem der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen betont. Erstens ging das Internet Anfang der 1990er Jahre plötzlich viral – und mit ihm spektakuläre Geschichten, die man sich vorher nur in der Stammkneipe erzählt hatte, nun in rasender Geschwindigkeit um den Globus gingen. Es bestand das Bedürfnis, alle seither aufgetauchten Beiträge, darunter viele „Hoaxes und Horrorstorys“ (Meyen), ernsthaft und systematisch auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. So wie es „Snopes.com“ in den USA seit 1994 online macht, wo man zwar noch immer ein Gerücht melden und eine Überprüfung auf seinen Wahrheitsgehalt verlangen kann. Persönlich darauf zu reagieren, sei allerdings längst nicht mehr möglich, schreibt das dortige Team, weil schlicht zu viele fragwürdige Informationen auftauchen.
Zu diesem allgemeinen Bedürfnis nach Orientierung angesichts der mittlerweile unendlichen Kommunikationsmöglichkeiten in traditionellen und neuen Medien kam zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Bedürfnis, die Mächtigen und Reichen (wieder) stärker im Blick zu behalten. Ein Grund hierfür war die „große Lüge“ (Meyen), die 2003 von der US-Regierung (vor allem von Präsident George W. Bush und Außenminister Colin Powell) zur Rechtfertigung des Irak-Kriegs verbreitet wurde. Die Behauptung wurde von Leitmedien so lange wiederholt, bis (fast) jeder – zumindest in der westlichen Welt – glauben musste, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen und das Regime Saddam Husseins könne innerhalb von Minuten einen ABC-Krieg starten.
Die Entstehung des Faktenchecks: Eine Frage der Ehre
Für den Journalismus hatte das Folgen. In einer bestimmten Nische des Berufsstandes wollte man das Vertrauen in den Journalismus nicht völlig den Bach runtergehen sehen. Das war laut Meyen der Antrieb wichtiger Pioniere von „Factcheck.org“ (gegründet 2003) oder „PolitiFact“ (gegründet 2007): nicht mehr alles durchwinken, was die Mächtigen als journalistische Berichterstattung reklamieren, sondern möglichst unabhängig recherchieren und publizieren. In Michael Meyens Worten: „Das tun, wofür wir den Journalismus bezahlen. Nicht Sprachrohr, Schoßhündchen oder gar Wachhund der Mächtigen sein, sondern Kritiker und Kontrolleur.“ Die „Faktenchecker“ der ersten Stunde wollten die Berufsehre des Journalismus retten.
Doch diese Idee wurde im Kampf um Deutungshoheit und Definitionsmacht bald gründlich von oben gekapert: Der Erfolg der ersten „Faktenchecker“ brachte viele Leute auf den Plan, die das damals noch relativ offene Internet gerade in Zeiten verschärfter Konkurrenz und von Krisen, Konflikten und Kriegen als Bedrohung ihrer Privilegien ansahen. Wie ließe sich der wachsenden Skepsis gegenüber journalistischen Medien ein Ende bereiten? Am besten ginge das, so Meyen, unter einem Label, das sich bewährt habe, das noch nicht abgenutzt sei und das jene Werte verkörpere, unter denen der Journalismus einst angetreten sei: Objektivität. Transparenz. Unabhängigkeit. Sprich: Fakten, Fakten, Fakten. Meyen: „Sozusagen die nackte Wirklichkeit, unbestechlich und ein für alle Mal festgeschrieben.“ Unterstützung von ganz oben, etwa von Angela Merkel, bekam diese absurde Idee schon früh. Das Zitat vom September 2016 aus der berühmten Rede zur Flüchtlingspolitik: „In letzter Zeit heißt es, wir leben in einer postfaktischen Zeit. Das bedeutet wohl, dass sich die Menschen nicht mehr für Fakten interessieren, sondern nur noch ihrem Gefühl folgen.“
Was genau sind „Fakten“?
Fakten sind nichts, was einfach und objektiv gegeben ist (das wären „Daten“). Das Wort „Fakten“ kommt vom lateinischen „facere“ und bedeutet machen, tun, handeln. „Fakten“ sind von Menschen von vornherein geschaffene Konstrukte. Solche „Fakten“ sollen bestimmte Zwecke erfüllen und bestimmten Interessen dienen. Ein mögliches Kriterium für „Wahrheit“ in diesem Sinne ist daher die menschliche Praxis, wie etwa im Marxismus. Da Menschen aber nicht für sich allein im Vakuum leben, sondern politisch in Nationalstaaten oder Staatenbünden oder ökonomisch im Kapitalismus, ist ihr Zusammenleben von politischer Herrschaft und ökonomischer Macht geprägt. Bei der Frage nach „Fakten“ geht es daher nicht zuletzt um die Deutungshoheit von Wirklichkeit und medialer Wirklichkeit(en). Wer ökonomisch reich und/oder politisch mächtig ist, hat daher ein Interesse (oder sogar mehrere Interessen) daran, dass die Fakten „richtig“ sind, also tendenziell mit seinen Interessen übereinstimmen. Vor diesem Hintergrund hat sich im Bereich der „konsequenten Faktenprüfung“ eine ganze Industrie entwickelt, die längst selbst ein lukratives Geschäftsfeld darstellt. Aber natürlich geht es dabei nicht nur ums Geld.
dpa
Faktencheck beim rbb: Was die Mächtigen sagen, wird für bare Münze genommen.
Und nun zurück zum aktuellen rbb-Projekt: Im Inforadio waren zwei junge Medienschaffende mit ihrem „Faktencheck“ zur Aussage des CDU-Politikers Jan Redmann zu hören. Demnach (ungefähre Transkription) mussten Operationen im Krankenhaus in Neuruppin verschoben werden, weil es an Pflegepersonal mangelte – unter anderem auch deshalb, weil die deutsche Diplomatie in Ankara zu lange brauchte, um türkischen Fachkräften Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu gewähren.
Der vorgelegte Faktencheck verlief folgendermaßen: Der erste Teil von Redmanns Aussage sei falsch, denn man habe bei der Krankenhausleitung in Neuruppin angerufen. Und die habe erfahren, dass zwar die Personalsituation angespannt sei, wegen dieser Knappheit aber keine Operationen verschoben werden müssten. Wie bitte? Man ruft bei den entsprechenden Behörden an und was die sagen, ist dann „Fakt“? Stellen Sie sich vor, die Krankenhausleitung würde zugestehen, dass tatsächlich Operationen verschoben würden. Um so etwas herauszufinden, müsste die Redaktion – Vorsicht, Fremdwort: recherchieren. Verschiedene Quellen mit unterschiedlichen Interessen finden und befragen. Dokumente analysieren. Unter Umständen verdeckt ermitteln – also recherchieren. Leider war das Ganze kein Ausrutscher – der zweite Teil von Redmanns Aussage wurde als „Fakt“ akzeptiert. Warum? Weil die deutsche Diplomatie in Ankara auf ihrer offiziellen Website zugibt, dass es organisatorische Schwierigkeiten bei der Visavergabe gibt. Gleiches Prozedere: Was die Behörden verkünden, wird für bare Münze genommen.
Am gleichen Abend strahlte die TV-Sendung „Brandenburg aktuell“ einen Bericht über die Projektwerkstatt der acht Ehrenamtlichen zum „Faktencheck“ aus. Pars pro toto: Ein Ehrenamtlicher musste eine Aussage des AfD-Vorsitzenden Hans-Christoph Berndt überprüfen, die sich mit Aspekten mutmaßlicher Kriminalität von Menschen mit einem bestimmten Migrationshintergrund beschäftigt hatte. „Und wie geht ihr dabei vor?“, wurde der junge Medienprofi gefragt. Er habe sich zunächst die offizielle Polizeistatistik angeschaut, sagte er. „Und dann habe ich auch noch eine Anfrage beim Landeskriminalamt gestellt.“ Wow, und immerhin: zwei Quellen! Spaß beiseite – auch hier das gleiche Muster: Man fragt die Mächtigen und nimmt, wie interessiert man auch sein mag, deren offizielle Version als „Fakt“. Um es vielleicht noch deutlicher zu machen, für die nächste Azubi-Ausbildung: Was wird aus dieser Art von „Faktenfindern“, wenn demnächst oder irgendwann eine Kraft wie die AfD politisch für Polizei und Landeskriminalamt verantwortlich ist? Na, dämmert es euch? Spätestens jetzt?
Abgesehen von solch absurder Handwerkskunst ist diese Art des „Fact-Checking“ grundsätzlich zu kritisieren, denn sie will das Publikum an die Hand nehmen – das heißt aber vor allem, es wie ein kleines, etwas störrisches Kind zu betrachten und zu behandeln. „Beaufsichtigtes Fernsehen“ oder „Beaufsichtigtes Radiohören“ braucht aber niemand – jedenfalls kein vernünftiger Mensch. Das ist tatsächlich „Fact“.