Interview: Was hinter Selenskyjs „Siegesplan“ steckt

Interview: Was hinter Selenskyjs „Siegesplan“ steckt


Interview

Stand: 21.09.2024 15:01

Präsident Selenskyj erklärte kürzlich, er habe einen „Siegesplan“ für die Ukraine. Laut Politologe Gressel will er Verhandlungen zu Russlands Bedingungen vermeiden. Nächste Woche will er US-Präsident Biden überzeugen.

tagesschau.de: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fliegt nächste Woche in die USA und will dem amerikanischen Präsidenten seinen „Siegesplan“ vorstellen. Was hören Sie darüber? Wie soll dieser aussehen?

Gustav Gressel: Die Details sind noch unter Verschluss. Aber über den Zweck wird bereits diskutiert. Es geht darum, einen Plan zu erstellen, mit welchen Mitteln man wo hinkommt.

Das Problem mit der westlichen Unterstützung für die Ukraine ist, dass sie im Wesentlichen ziellos ist. Es sind keine wirklichen Ziele definiert, was genau mit der militärischen und politischen Unterstützung im Land erreicht werden soll. Einige sprechen von einem Waffenstillstand, andere von guten Verhandlungspositionen, wieder andere von einem möglichen Sieg der Ukraine. Aber niemand definiert ihn genau.

Und die Ukrainer haben Angst, dass ihre Interessen in der Innenpolitik anderer Länder untergehen. Man sehe die Haushaltsdebatten in Deutschland, die Regierungsdebatten in Frankreich, eine Wahl in Amerika, deren Ausgang wir nicht kennen. Die Sorge ist, dass die Ukraine das bekommt, was irgendwo entbehrlich ist und in einem Finanztopf übrig bleibt – aber ohne konkrete Ziele und ohne Festlegung einer Strategie.

Die größte Angst ist, dass Donald Trump uns über Nacht an den Verhandlungstisch zwingt, zu Bedingungen, die Wladimir Putin diktiert. Wenn wir bei dieser Diskussion mitreden wollen, müssen wir Vorschläge machen.

Gustav Gressel

Zur Person

Gustav Gressel ist Politikwissenschaftler und Militäranalyst beim European Council on Foreign Affairs in Berlin.

„Russland zwingen, weniger Flugplätze in Frontnähe zu nutzen“

tagesschau.deSPIEGEL: Präsident Selenskyj hat gesagt, man müsse die Russen zu Verhandlungen zwingen. Wie soll das gelingen?

Gressel: Aus ukrainischer Sicht wäre es wichtig, dass Russland keine Aussicht mehr hat, diesen Krieg militärisch zu gewinnen. Um Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen, wäre es notwendig, den militärischen Druck auf die russischen Streitkräfte in der Ukraine so weit zu erhöhen, dass Russland befürchten müsste, den Krieg zu verlieren.

Die Ukraine erhält allerdings nur die Unterstützung, die sie braucht, um die nächsten Monate zu überstehen. Das Land hat aus der Erfahrung gelernt, dass eine Gegenoffensive vor allem viele Menschenleben kostet und versucht, einen kreativeren Einsatz moderner Waffensysteme zu fördern. Die Ukraine will Schläge gegen die russische Rüstungsindustrie, gegen Munitionsdepots und die Treibstoffversorgung durchführen. Aus ukrainischer Sicht sind das alles Methoden, um Russland unter Druck zu setzen, ohne eigene Soldaten zu opfern.

tagesschau.de: Wie wichtig wäre es also für die westlichen Partner, Langstreckenwaffen wie ATACMS für Angriffe auf Ziele in Russland zuzulassen? Oder ist es dafür bereits zu spät?

Gressel: Das russische Militär hat bereits schweres Gerät und Munitionsdepots verlegt, aber es würde der Ukraine natürlich helfen. Ein Großteil der Fortschritte der russischen Armee ist auf den massiven Einsatz von Gleitbomben zurückzuführen. Diese Missionen werden von Flughäfen in unmittelbarer Nähe der Front aus durchgeführt, wo die russischen Flugzeuge wirklich wie an einer Perlenschnur aufgereiht werden – aufgetankt, neu bewaffnet und dann losgeschickt.

Würde man die Russen einfach zwingen, weniger Flugplätze in Frontnähe zu nutzen, könnte dies die Zahl ihrer täglichen Einsätze und die Zahl der Gleitbomben, die über ukrainischen Stellungen und Städten abgeworfen werden, deutlich reduzieren.

Zwei mögliche Richtungen für die westliche Strategie

tagesschau.deSPIEGEL: Und wie wahrscheinlich ist es, dass US-Präsident Joe Biden diese Ermächtigung kurz vor Ende seiner Amtszeit erteilt?

Gressel: Es gibt ein Gerücht, dass Präsident Biden sein „Vermächtnis“ verbessern möchte. Er könnte entweder Langstreckenwaffen genehmigen oder seine bisherige Opposition gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aufgeben. Beides würde der Ukraine natürlich enorm helfen – das eine militärisch, das andere politisch.

Der Ukraine geht es auch darum, eine Wiederholung des Krieges zu verhindern, also sicherzustellen, dass Russland in drei oder fünf Jahren nicht wieder angreift. Deshalb ist die Frage nach Sicherheitsgarantien immer wieder aufgekommen – die Menschen sind sehr unzufrieden mit dem, was bisher erreicht wurde.

Die Regierung in Kiew will den Nato-Beitritt vor allem deshalb, weil sie weiß, dass nur ein echter Beitritt eine echte Garantie und eine echte diplomatische Abschreckung gegenüber Moskau wäre. Bisher ist das aufgrund der starren Haltung in Berlin und Washington nicht möglich. Sollte Biden seine Meinung ändern, könnte die Sache aber ins Rollen kommen.

Doch der Weg kann nur in eine Richtung führen, er kann nicht beides sein. Irgendwann wird der Westen entscheiden müssen, ob er die Ukraine so stark aufrüstet, dass sie die Russen militärisch besiegen kann, oder ob er die Ukraine in die NATO aufnimmt und ihr durch die internationale Allianz eine volle westliche Integration und eine starke Abschreckung gegen Russland bietet.

Selenskyjs Mission ist es daher, den Westen zu einem strategischen Vorgehen zu bewegen, das dauerhaften Frieden sichert. Deshalb spricht er vom „Siegesplan“ und wird alle Handlungsoptionen stärker miteinander verknüpfen.

„Aus russischer Sicht ist Diplomatie die ‚Papierflanke‘ des Krieges“

tagesschau.deSPIEGEL: Was sind die Sorgen der Ukrainer – auch nach den Erfahrungen der Minsker Verhandlungen, die vor neun Jahren den Konflikt in der Ostukraine beilegen sollten?

Gressel: Das Minsker Abkommen war kein Waffenstillstand, der zum Frieden führte, sondern ein Waffenstillstand, der den Weg für den Krieg bereitete. Das Problem ist: Wenn die Ukraine eine Region bleibt, die nicht der NATO beitritt, sondern weiterhin finanziell vom Westen abhängig, zersplittert und teilweise besetzt bleibt, dann müssen die Menschen dort in ein paar Jahren wieder mit Krieg rechnen.

Wenn man sich im eigenen Land nicht sicher fühlt, sein Geld und seine Kinder ins Ausland bringt, dann werden alle Talente gehen und die, die bereits geflohen sind, nicht zurückkommen. In einem solchen Fall würde die Ukraine mit der Zeit ausbluten – finanziell und demographisch. Sie wäre dann auch militärisch nicht mehr wehrfähig. Aus ukrainischer Sicht wäre es unverantwortlich, einem Waffenstillstand zuzustimmen, ohne der NATO beizutreten, denn das bedeutet im Grunde einen militärischen Vorteil für Russland.

Was man in Europa einfach nicht versteht, ist, wie Russland Verhandlungen und Diplomatie als Mittel der Kriegsführung nutzt. Wir glauben, dass jede diplomatische Lösung besser ist als Schießereien. Aus russischer Sicht ist die Diplomatie jedoch die „Papierflanke“ des Krieges, die Diplomaten sichern und damit die Ausgangsposition für die russische Kriegsführung verbessern müssen. Daher ist nicht jeder Waffenstillstand grundsätzlich gut.

„Militärische Niederlage eher eine Chance für Russland“

tagesschau.de: Bei einem ukrainischen Drohnenangriff ist offenbar ein Waffendepot in der russischen Region Twer getroffen worden. Inwieweit könnten Drohnen eine ähnliche Wirkung erzielen wie ATACMS?

Gressel: Es war ein sehr großer Angriff, der natürlich schwer zu wiederholen ist, weil sie jetzt wieder genügend Drohnen produzieren müssen. Der Vorteil solcher Angriffe für die Ukraine ist, dass sie auf einen Schlag eine enorme Menge Munition zerstören können. Aber ein Munitionsdepot ist ein Punktziel.

ATACMS sind weitaus wirksamer gegen Flächenziele – wie Panzer, Hubschrauber und Flugzeuge, die auf Flughäfen und Übungsplätzen auf russischem Territorium wie bei einer Parade aufgereiht sind. Würden ATACMS eingesetzt, wäre die Produktion der russischen Rüstungsindustrie mehrerer Jahre auf einen Schlag vernichtet.

tagesschau.de: Der Westen will Russland eigentlich nicht verlieren sehen – aus Angst vor einem möglichen Zerfall des Landes. Wie sehen Sie das?

Gressel: Es wäre nicht der erste Krieg, den Russland verliert. Selbst wenn das passiert, bedeutet das nicht, dass das Imperium zusammenbricht. Allerdings ist es natürlich richtig, dass die russische Führung im Falle eines verlorenen Krieges wahrscheinlich unter erheblichen Druck geraten würde und entweder aus dem Amt gejagt würde oder Reformen zulassen müsste. Das derzeitige Regime betrachtet den Westen bereits als seinen Erzfeind. Schlimmer kann es kaum noch kommen.

Wenn wir uns Russlands verlorene Kriege der Vergangenheit ansehen, haben Niederlagen wichtige Reformen angestoßen, etwa die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Selbstverwaltung der Städte oder die Einführung der Duma – also eine Teildemokratisierung und mehr Bürgerrechte. Eine militärische Niederlage ist für Russland aus meiner Sicht eher eine Chance als ein Risiko.

Das Interview führte Birgit Virnich, ARD-Studio Kiew

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