Die Bewerbungsnummer 45 sah eigentlich unverdächtig aus. Das Europäische Parlament solle „angemessene Mittel für äußere physische Barrieren an der Unionsgrenze“ fordern, heißt es in der Änderung des EU-Haushalts 2025, über die die Abgeordneten am Mittwoch in Straßburg abgestimmt haben. Übersetzt heißt das: Bitte mehr Geld für Grenzzäune. Die Idee hat in der europäischen Politik längst eine Mehrheit; Es entspricht auch dem, was die EU-Staats- und Regierungschefs letzte Woche auf ihrem Gipfel in Brüssel beschlossen haben. So weit, so unproblematisch.
Allerdings waren die Sätze aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen wurden sie vom AfD-Abgeordneten Alexander Jungbluth im Namen der rechtsextremen Fraktion „Europa Souveräne Nationen“ (ESN) eingebracht. Und zweitens stimmten die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP) unter Manfred Weber (CSU) diesem und einem weiteren Vorschlag der deutschen Rechtspopulisten zu, in dem Abschiebelager außerhalb der EU unterstützt wurden. Dies führte zu einer unerwarteten Explosion im Straßburger Parlament – und aus Sicht von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen zu einem Tabubruch, der grundlegende Fragen aufwarf: nach Webers Umgang mit der extremen Rechten im Parlament und nach der Stabilität der Partei. Europäische Mehrheit, die die EVP mit den sozialdemokratischen und liberalen Parteien hat.
Die Rechtsextremisten orchestrierten ihr Manöver geschickt
Einmal im Jahr stimmen die Parlamentarier über den EU-Haushalt für das kommende Jahr ab. Die Abstimmung gliedert sich in zwei Teile: Zum einen bestimmen die Abgeordneten ihre Position zum Haushalt selbst. Andererseits entscheiden sie sich für eine Petition, mit der sie ihre Position darlegen. Dies kann wie eine Gebrauchsanweisung gelesen werden; Für die anschließenden Verhandlungen mit den Vertretern der Mitgliedsstaaten braucht man es nicht unbedingt.
Der AfD-Antrag bezog sich auf diese Petition. Aus Sicht der Mehrheit von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen war das Positionspapier im Grunde fertig; Sie hatten keine weiteren Änderungsanträge eingereicht – und überließen damit das Feld den Links-, Rechts- und Rechtsextremisten. Die Rechtsextremisten nutzten die Gelegenheit zu einem klugen Manöver: Sie übernahmen aus eigener Initiative die Position der EVP. Weber und seine Gruppe standen vor einem Dilemma: Wenn sie gegen die Formulierungen des ESN stimmten, widersprachen sie ihrer eigenen Linie. Wenn Sie dafür stimmen, wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie die Mauer nach rechts niederreißen würden.
Sie entschieden sich für Letzteres und damit für eine heikle Antwort auf die entscheidende Frage, die auch die Christdemokraten in Deutschland beschäftigt: Wie stehen Sie zu den erstarkten Kräften am rechten Rand?
Infolgedessen scheiterte die Resolution insgesamt, da eine Mehrheit aller Parteien links von der EVP aufgrund ihrer Aktion dagegen stimmte. Auch die beiden rechtsextremen Fraktionen stimmten gegen die Petition – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen; Sie hielten die Resolution insgesamt für „inakzeptabel“, wie der ungarische Fidesz-Abgeordnete Tamás Deutsch es ausdrückte.
Die AfD freut sich darüber, dass die Firewall erodiert
Zahlreiche Abgeordnete zeigten sich empört. „Das Europäische Parlament ist seit heute anders“, sagte Terry Reintke, Co-Vorsitzender der Grünen. „Manfred Webers EVP arbeitet mittlerweile völlig offen und unverfroren mit der AfD und ihren rechtsextremen Freunden zusammen.“ Das sagte der FDP-Abgeordnete Moritz Körner Süddeutsche Zeitung: „Die EVP hat jede Schande verloren.“ Der Wahlerfolg ist den Christdemokraten zu Kopf gestiegen. „In ihrem Streben nach Macht haben sie den Rechtsextremisten Einfluss gegeben, dadurch ihre gemäßigten Partner verloren und sind am Ende dennoch von den Rechtsextremisten fallen gelassen worden“, sagte er. Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gaby Bischoff, schrieb auf Plattform X an die CDU: „Firewalls sind für Sie mittlerweile ein Fremdwort.“
Das will die EVP nicht akzeptieren. In ihren Reihen verweisen sie auf zwei Dinge. Erstens gibt es noch immer keine Zusammenarbeit mit den rechtsextremen Parteien im Parlament; Nicht einmal Vereinbarungen sind denkbar. Zweitens handelte es sich in diesem konkreten Fall um eine Kernforderung der EVP. Und sie wollten wohl auch nicht von rechten Kräften beschuldigt werden, in der Migrationsfrage gegen ihre eigene Linie zu stimmen.
EVP-Chef Weber verteidigt das Vorgehen auf Nachfrage der SZ. „Die EVP ist die Speerspitze im Kampf gegen Anti-Europäer, wie zum Beispiel die Wahlergebnisse von Donald Tusk oder die EVP-Mitgliedschaft in der Orbán-Opposition zeigen“, sagte er. Die Firewall ist klar definiert: „Es gibt keine Zusammenarbeit mit Radikalen, die auch nur eines unserer drei Grundprinzipien – Pro-Ukraine, Pro-Europa, Pro-Rechtsstaatlichkeit – ablehnen oder verletzen.“ Das gilt für rechte und linke Parteien. Ansonsten folge man seinen eigenen „politischen und programmatischen Überzeugungen“.
Allerdings sind sie innerhalb der EVP so vielfältig, dass sich die politische Kultur Deutschlands nicht auf das EU-Parlament übertragen lässt. Vertreter von Parteien wie der österreichischen ÖVP oder der italienischen Forza Italia haben nicht unbedingt Verständnis für die Möglichkeit, die Abstimmung für Vorschläge der rechten Fraktionen kategorisch auszuschließen – wie es CDU und CSU in deutschen Parlamenten im Umgang mit der AfD tun. Für sie gilt die Zustimmung zu einem AfD-Antrag nicht als Tabu.
Nur die Rechtspopulisten waren an diesem denkwürdigen Mittwoch in Feierlaune. „Die Mauer im EU-Parlament ist heute weiter abgerissen worden“, schrieb AfD-Europafraktionschef René Aust auf „Wir setzen die Themen“. Wir bestimmen und verschieben den Diskurs.“