Eine US-Einheit aus Hunderten von Künstlern, die die Wehrmacht mit aufblasbaren Panzern und Tonbandgeräuschen in die Irre führte: Die Existenz der „Geisterarmee“ war lange Zeit geheim. Jetzt werden die Veteranen geehrt.
Bernie Bluestein war ein Künstler, kein Soldat. Er wollte nicht kämpfen, aber er wollte etwas für sein Land tun. Das wollte der junge Kunststudent aus Cleveland, Ohio, tun. 1943 stieß er am Schwarzen Brett seiner Universität auf eine Notiz der US-Armee. „Sie wollten junge Künstler wie mich für eine neue Einheit rekrutieren, die Tarnung herstellen sollte“, sagt der mittlerweile 100-jährige Kriegsveteran. Kampfeinsätze waren ausdrücklich ausgeschlossen – und so unterzeichnete er im Frühjahr 1943.
Heute ist Bluestein einer der letzten Menschen, der von einem lange gehüteten US-Militärgeheimnis erzählen kann. Denn der damals 19-Jährige hatte sich – ohne es zu ahnen – der „Ghost Army“ angeschlossen, der Phantomeinheit des US-Militärs.
Gerade am D-Day gesehen
„Die Geisterarmee war eine Täuschungseinheit“, sagt Rick Beyer, ein Filmemacher, der die Geschichte ans Licht brachte und bekannt machte. Ihre Aufgabe bestand darin, die Deutschen über die Größe und den Standort anderer US-Einheiten in die Irre zu führen.
Die Einheit rekrutierte sich aus Künstlern, Ingenieuren, Berufssoldaten und Wehrpflichtigen. In den Monaten vor ihrem Einsatz entwickelten sie aufblasbare Panzer, Flugzeuge und Waffen und bauten riesige Lautsprecher, um den Ton rollender Panzer und marschierender Truppen kilometerweit zu übertragen.
Als alliierte Truppen am 6. Juni 1944 in der Normandie landeten, um Westeuropa von den Nazis zu befreien, sahen die 1.100 Mann der Geisterarmee von England aus zu. Erst einige Tage später, als sich die Lage etwas beruhigt hatte, überquerten sie die Grenze.
Karen und Debra sind stolz auf Al Albrecht – auch wenn sie über die Kriegserlebnisse ihres Verwandten zu seinen Lebzeiten erstaunt waren.
Weglaufen, wenn die Wehrmacht kommt
Al Albrecht aus Milwaukee, Wisconsin, der gerade 17 Jahre alt war und zu dieser Zeit einer der jüngsten Soldaten war, war dort. Später habe er immer gesagt, dass er den größten Ghettoblaster aller Zeiten gefahren sei, erzählt Tochter Karen über ihren inzwischen verstorbenen Vater. Mit dem Lärm und den aufblasbaren Panzern sollte die „Geisterarmee“ die Aufmerksamkeit der Deutschen erregen. Sobald die Wehrmacht tatsächlich eintraf, musste sie die Luft rauslassen und so schnell wie möglich weglaufen, wie Albrecht es später seinen Töchtern beschrieb.
John Jarvie aus New Jersey war einer der vielen Künstler, die für die optischen Täuschungen in der „Geisterarmee“ verantwortlich waren und in seiner Freizeit unermüdlich malten und zeichneten. Seine Nichte Martha Gavin erinnert sich an all die Aquarelle zerstörter Kirchtürme, die ihr Onkel John aus dem Krieg mitgebracht hat. „Ich fragte: Warum malt Onkel John immer kaputte Kirchen, warum malt er nicht ganze Kirchen?“
Goldmedaille des US-Kongresses
Doch ihr Onkel John redete nicht über den Krieg – weil er es nicht durfte. 50 Jahre lang blieb der Einsatz der „Geisterarmee“ als Militärgeheimnis geheim. Erst 1995 wurde bekannt, dass die „Geisterarmee“ bis Kriegsende mehr als 20 Mal im Einsatz war – und wie erfolgreich sie war: Beispielsweise, dass sie die Deutschen ablenkte, als der legendäre US-General Patton wollte die Festung Metz in Frankreich erobern. Und dass sie 1945 die Nazis am Rhein getäuscht hat, damit die US-Armee anderswo sicher den Fluss überqueren konnte.
Filmemacher Beyer glaubt, dass die Phantomarmee sehr effektiv war und Tausende von Leben gerettet hat. Das glauben mittlerweile auch US-Politiker: Im März verlieh der Kongress der „Ghost Army“ ihre Goldmedaille. Für die große Mehrheit ist es zu spät: Von den 1.100 Soldaten sind nur noch sieben am Leben.
Katrin Brand, ARD Washington, tagesschau, 8. Mai 2024 9:25 Uhr