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Zur Drohnenbekämpfung setzt Estland seit Beginn an auf Miniraketen

Zur Drohnenbekämpfung setzt Estland seit Beginn an auf Miniraketen

An diesem sonnigen Herbsttag weht ein eisiger Wind auf dem Luftwaffenstützpunkt Ämari, gut hundert Kilometer westlich der estnischen Hauptstadt Tallinn. Oberst Gaetano Farina, ein Mittfünfziger in grünem Fliegeranzug und Sonnenbrille, steht am Rand der Landebahn und erklärt die Situation, in der sie sich vor ein paar Tagen hier befanden. Die NATO-Luftüberwachung hat drei russische Kampfflugzeuge entdeckt, die in den Luftraum über Estland eingedrungen waren. Das allein sei nicht ungewöhnlich, sagt Farina. So etwas passiert hier ständig, allein seit August sieben Mal. Neu war allerdings die Dauer: Zwölf Minuten blieben die MiG-31 im estnischen Luftraum – ohne Einschalten ihrer Transponder, ohne Übermittlung eines Flugplans und ohne auf Funksprüche der Flugsicherung und Flugabwehr zu reagieren.

Die italienische Luftfahrtsparte habe die Reaktion darauf perfekt gemeistert, sagt Farina. Im August übernahm Italien im Rahmen einer NATO-Mission für sechs Monate die Überwachung des baltischen Luftraums, da Estland, Lettland und Litauen über keine eigene nennenswerte Luftwaffe verfügen. Drei F-35-Kampfflugzeuge stiegen auf und nahmen Sichtkontakt mit den russischen Piloten auf, die schließlich auf die Welle reagierten. „Sie winkten zurück, ein Zeichen dafür, dass sie verstanden haben“, erklärt Farina. „Dann haben wir sie aus dem estnischen Luftraum eskortiert.“ Es bestand keine Gefahr, da die Bewaffnung der MiGs keinen bevorstehenden Angriff anzeigte und sie nicht in Richtung des estnischen Festlandes flogen. „Für uns war es absolut nichts Aufregendes“, sagt Farina. „Wir haben einfach unseren Job gemacht.“

Russland verweigert Estland die Unabhängigkeit

Estland lebt seit vielen Jahren mit russischen Provokationen und hybriden Angriffen. Dazu gehören gestohlene Bojen am Grenzfluss Narva, Störungen von GPS-Signalen, die die Zivilluftfahrt gefährden, Cyberangriffe auf private und staatliche Institutionen und eine regelrechte Flut antiestnischer und antieuropäischer Propaganda in sozialen Netzwerken. „Russlands Aktivitäten erinnern uns daran, dass wir unsere Anstrengungen zur Verteidigungsfähigkeit verdoppeln müssen“, sagte der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur bei der Eröffnung der „Tallinn Defence Expo“.

Italiens Luftwaffe schützt den Himmel über dem Baltikum: Oberst Gaetano Farina auf dem Luftwaffenstützpunkt Ämari
Italiens Luftwaffe schützt den Himmel über dem Baltikum: Oberst Gaetano Farina auf dem Luftwaffenstützpunkt ÄmariErlend Staub

Die Fachmesse des estnischen Verteidigungs- und Luftfahrtindustrieverbandes findet zum ersten Mal statt. Die Branche entwickelte sich in Estland praktisch aus dem Nichts. Während der sowjetischen Besatzungszeit gab es in Estland keine Rüstungsindustrie. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 musste sich das kleinste der baltischen Länder mit knapp über 1,3 Millionen Einwohnern in vielen Bereichen neu erfinden. Obwohl die Hoffnungen der Esten auf vernünftige Beziehungen zu ihrem östlichen Nachbarn zunächst groß waren, glaubten viele Esten nach dem Amtsantritt von Wladimir Putin, dass die Hoffnung eine Illusion sei. Der russische Präsident behauptete wiederholt, Estland sei kein unabhängiges Land, sondern habe historisch zu Russland gehört, und er beschrieb die Esten als „Parasiten“, die nur von der Sowjetunion profitiert hätten.

Es war umgekehrt: Die sowjetische Besetzung des Baltikums, die durch Stalins Pakt mit Hitler ermöglicht wurde, raubte Estland seiner Entwicklung. Die Intelligenz des Landes – Lehrer, Wissenschaftler, Geistliche, Bürgermeister, Vertreter – wurde getötet oder in sibirische Lager geschickt; Es gibt kaum eine estnische Familie, die nicht von den sowjetischen Morden und Säuberungen betroffen war. Dies ist tief im nationalen Gedächtnis verankert, weshalb Estland und seine baltischen Nachbarn schon früh vor der Gefahr warnten, die sie mit der Machtübernahme Putins in Moskau drohten. Lediglich die Länder Westeuropas sahen das anders.

Keine wirksame westliche Drohnenabwehr

Nun müsse Europa mit Schnelligkeit und Agilität nachholen, was es jahrzehntelang versäumt habe, sagt Verteidigungsminister Pevkur. Beides sind jedoch Stärken seines Landes. „Wir mögen als Land klein sein, aber wir sind reich an Talenten und Möglichkeiten.“ Estland möchte zur kollektiven Sicherheit Europas beitragen. „Die Bedrohung ist real“, sagt Pevkur. „Wir müssen zusammenarbeiten und liefern.“ Estlands Industrie beobachtet den Krieg in der Ukraine sehr genau und hat daraus Konsequenzen gezogen, wobei sie sich vor allem auf Drohnen und deren Abwehr sowie ferngesteuerte Fahrzeuge und Cyberabwehr spezialisiert hat.

Kalev Koidumäe vom Verband der Verteidigungsindustrie: „Schauen Sie, was wir in 30 Jahren aus diesem Land gemacht haben“Erlend Staub

Zwei Männer in einem einfachen Bürogebäude in der Nähe des Flughafens Tallinn können nur den Kopf schütteln darüber, dass die Nato teure Raketen, im wahrsten Sinne des Wortes Kanonen, auf die 20 russischen Billigdrohnen abgefeuert hat, die Mitte September über Polen flogen. Natürlich könne man mit einer Iris-T-Rakete eine Drohne abschießen, sagt Andreas Bappert. „Aber das ist extrem teuer!“ Eine solche Rakete kostet zwischen 400.000 und 500.000 Euro, während eine Drohne im Zweifel nur ein paar Hundert Euro kostet. Bappert weiß das, weil er viele Jahre leitender Ingenieur beim Iris-T-Hersteller Diehl Defence in Baden-Württemberg war. Vor fast einem Jahr ging er nach Estland zu einem Start-up namens Frankenburg Technologies. Hier entwickelt er wieder Raketen – gegen Drohnen.

„Westliche Militärtechnik bietet bislang keine wirksame Lösung gegen die Bedrohung durch Drohnen“, sagt Firmenchef Kusti Salm. In seinen Händen hält er den Prototyp einer Minirakete. Sie nannten das innerhalb von zehn Monaten entwickelte Modell „Mark One“. Verteidigungsdrohnen seien schön und gut, sagt Salm. Dann benötigt man aber für jede anfliegende Drohne eine eigene Abwehrdrohne und einen eigenen Steuermann. Drohnenschwärme können damit jedoch nicht effektiv bekämpft werden. Salms Antwort auf die neue Bedrohung ist ebenfalls ein Schwarm, bestehend aus kleinen, einfachen Raketen ohne große Reichweite, aber mit hoher Zielgenauigkeit. „Man muss Masse mit Masse beantworten“, sagt er.

Keine Angst, aber gute Vorbereitung

Hinter ihm befindet sich eine Abschussrampe, die wie eine Miniaturversion der Patriot-Flugabwehrabschussrampen aussieht. Dieser lässt sich praktisch auf jeden Pick-up-Truck montieren und sei daher sehr mobil, sagt Salm. Sie haben bereits mehr als 50 Feldtests auf dem Truppenübungsplatz der estnischen Armee absolviert, nun soll das Modell in Serie gehen. „Das wird die Flugabwehr verändern, weil es zwei Hauptprobleme löst“, sagt Andreas Bappert: „Es ist zehnmal günstiger und hundertmal effektiver“, weil die Abwehrraketen in Massenproduktion hergestellt werden können. Firmenchef Salm formuliert, was ihn und seine Mitarbeiter antreibt: „Wir wollen diesen Krieg gewinnen.“

Hinter der martialisch klingenden Mission verbirgt sich eine tief in der estnischen Bevölkerung verankerte Überzeugung: dass sie nie wieder unter Besatzung leben wollen. „Sehen Sie, was wir in 30 Jahren aus diesem Land gemacht haben“, sagt Kalev Koidumäe, der Vorsitzende des estnischen Verbandes der Verteidigungs- und Luftfahrtindustrie. Tatsächlich hat sich Estland von einer einst trostlosen Sowjetrepublik zu einem der modernsten und wettbewerbsfähigsten Länder Europas mit hohem Lebensstandard hochgearbeitet. „Das wollen wir nicht alles verlieren.“ Den Esten ist klar, dass sie das nächste Ziel sein werden, wenn Russland mit seinem Feldzug in der Ukraine erfolgreich ist. „Das darf niemals passieren“, sagt Koidumäe.

Der estnische Wirtschaftsminister Erkki Keldo: „Wenn wir vorbereitet sind und keine Angst haben, wird uns nichts passieren.“Erlend Staub

Allerdings gibt es in Estland wenig Angst; Vielmehr lautet die Devise, wachsam und vorbereitet zu sein. Und die Ukraine hilft dabei. Fast alle estnischen Verteidigungsunternehmen arbeiten mit der ukrainischen Armee zusammen. Dort testen Sie Technik und Munition unter realen Einsatzbedingungen und können so schnell auf neue Entwicklungen reagieren. „Wir haben durch die Zusammenarbeit mit Frontsoldaten bereits viele nützliche Erfahrungen gesammelt“, sagt Magnus Muru. Er ist Chef eines Start-ups, das sich darauf spezialisiert hat, eine stabile und sichere Kommunikation an der Front aufzubauen – mit einer Anwendung auf dem Handy. Die Herausforderungen, aber auch die Fortschritte sind immens. „Der Krieg treibt Innovationen voran“, sagt er und er sei stolz auf das, was er und seine Mitarbeiter in so kurzer Zeit erreicht haben. Der junge Unternehmer macht sich keine Illusionen über die Russen. „Uns gefällt nicht, wie sie sich uns gegenüber verhalten“, sagt Muru. „Aber wir haben keine Angst, im Gegenteil: Wir fühlen uns sicher, weil wir vorbereitet sind.“

In einem Vorort von Tallinn werden in einer unauffälligen Lagerhalle zahlreiche Arten von Drohnen aufgestellt. Defsecintel, eines der größten Sicherheitsunternehmen Estlands, produziert hier. Sie ist beispielsweise mit Überwachungstechnik bei Fußballspielen und Konzerten aufgewachsen, doch ihr neuer Fokus liegt auf Drohnen. Auf einer Leinwand zeigt Firmenchef Jaanus Tamm einen Animationsfilm, der angeblich die Lösung eines Problems zeigt, das Politiker in Europa seit dem Vorfall in Polen beschäftigt: eine Anti-Drohnen-Mauer. An der Ostgrenze aufgestellte akustische und optische Detektoren erkennen ankommende Drohnen, deren Art und Menge und aktivieren automatisch die entsprechenden am Boden installierten Abwehrmaßnahmen. Dabei kann es sich um Drohnen handeln, die direkt gegen Angriffsdrohnen fliegen, aber auch um sogenannte Netzwerkdrohnen, die mit Sprengstoff ausgestattet sind und angreifende Drohnen über bewohnten Gebieten einfangen und an sichere Orte transportieren.

Fünf Prozent für die Verteidigung

Was im Film utopisch aussieht, sei anwendungsreif, sagt Tamm. „Wir haben bereits alle Systeme in der Ukraine im Einsatz und viele ukrainische Ingenieure haben hier bei der Entwicklung mitgeholfen.“ Der Ball liegt nun in der Politik, ob eine solche Mauer gebaut werden soll. „Worauf warten wir?“ er fragt und zählt auf: In diesem Jahr hat die russische Armee ihre Drohnenangriffe auf die Ukraine verzehnfacht, und nächstes Jahr will Russland allein 75.000 der billigen und langlebigen Shahed-Drohnen bauen. An der 1.500 Kilometer langen baltisch-russisch-weißrussischen Grenze wäre die Investition in eine unsichtbare Verteidigungsmauer enorm, ganz zu schweigen von der fast ebenso langen Grenze des restlichen NATO-Territoriums zu Russland.

Es ist durchaus möglich, dass je nach belebtem und unbelebtem Gebiet ein Mix verschiedener Verteidigungstechniken zum Einsatz kommt. Tamm sagt, dass wir jetzt schnell handeln müssen. „Wir haben keine Zeit mehr.“ Auch Erkki Keldo, Estlands Minister für Wirtschaft und Industrie, sagt, wir sollten uns nicht beunruhigen. „Wenn wir vorbereitet sind und keine Angst haben, wird uns nichts passieren.“ In seinem Ministerium stellt der 35-jährige Politiker Eckdaten zur estnischen Verteidigungsbereitschaft vor: Seit 2015 investiert Tallinn zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Verteidigung, ab 2026 sollen es mehr als fünf Prozent sein. Nur zur Verteidigung, betont Keldo. Anders als in Deutschland kämen noch Ausgaben für die Infrastruktur hinzu.

Darüber hinaus gibt Estland der Ukraine jährlich 0,25 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts als Militärhilfe, rund 110 Millionen Euro. „Wir wissen, dass es keine große Menge ist“, sagt Keldo. „Aber wenn alle anderen Länder dasselbe täten, würde der Ukraine sehr geholfen werden.“ Alle EU-Staaten zusammen geben Kiew gerade einmal 0,1 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung als Militärhilfe; Deutschland ist mittlerweile mit knapp 0,5 Prozent stärkster Befürworter. Keldo hält es für richtig, dass die USA von Europa mehr Engagement verlangen. Estland ist froh, dass Europa endlich aufgewacht ist und schneller vorankommt als zuvor. „In die Verteidigung zu investieren ist teuer“, sagt Keldo. „Aber die Freiheit ist es wert.“

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