Zehntausende noch immer auf der Flucht
Israel hat ein neues Kriegsziel
17.09.2024, 08:01 Uhr
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Vor knapp einem Jahr flohen Zehntausende Menschen aus Nordisrael vor den Angriffen der Hisbollah. Netanjahus Kriegskabinett will das ändern und ihnen die Rückkehr ermöglichen – wozu laut dem Verteidigungsminister „militärische Maßnahmen“ nötig seien.
Die Anzeichen für einen möglicherweise drohenden großen Krieg zwischen Israel und der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah mehren sich. Israels Verteidigungsminister Joav Galant sagte nach Angaben seines Büros bei einem Treffen mit dem US-Vermittler Amos Hochstein, der einzige Weg, die Rückkehr geflüchteter israelischer Staatsbürger in ihre Heimat im Norden zu gewährleisten, sei „eine militärische Operation“.
Israels Sicherheitskabinett erklärte über Nacht, die Rückkehr der Bewohner sei eines der Ziele des Krieges gegen die mit der Hisbollah verbündete Hamas im Gazastreifen. Israel werde weiterhin „auf die Umsetzung dieses Ziels hinarbeiten“, hieß es aus dem Büro des Ministerpräsidenten. Bisherige Kriegsziele Israels seien gewesen, die militärischen Fähigkeiten und den Regierungsapparat der islamistischen Hamas zu zerstören, alle Geiseln zu befreien und sicherzustellen, dass der Gazastreifen künftig keine Bedrohung mehr für Israel darstelle.
Die pro-iranische Hisbollah beschießt Israel seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr. Sie wird ihren Beschuss nicht einstellen, bis ein Waffenstillstand in Gaza erreicht ist. Bei den Feuergefechten wurden im Libanon bisher 623 Menschen getötet, darunter mindestens 141 Zivilisten. Auf israelischer Seite, einschließlich der annektierten Golanhöhen, wurden nach Angaben der Behörden bisher 24 Soldaten und 26 Zivilisten getötet.
Israel fordert Abzug der Hisbollah
Israel will, dass sich die Hisbollah-Milizen in das Gebiet nördlich des Litani-Flusses zurückziehen, 30 Kilometer von der Grenze entfernt. Nach dem letzten großen Krieg mit Israel im Jahr 2006 legte eine UN-Resolution fest, dass sich Hisbollah-Kämpfer nicht südlich dieser Linie aufhalten dürften. Im Laufe der Jahre sind die Milizen jedoch nach und nach in das Grenzgebiet zurückgekehrt, während UN-Friedenstruppen hilflos zusahen.
Der Druck auf Israels rechtskonservativen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wächst, Zehntausenden israelischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat zu gestatten. Rechtsgerichtete Israelis fordern, dass die israelische Sicherheitszone im Südlibanon, die im Jahr 2000 geräumt wurde, zu ihrem Schutz wiederhergestellt wird.
US-Außenminister reist nach Ägypten
Vor diesem Hintergrund versucht die US-Regierung, Gespräche über einen Waffenstillstand in Gaza wiederzubeleben – auch in der Hoffnung, dass eine Einigung zwischen Israel und der Hisbollah den Weg für eine Deeskalation ebnen würde. US-Außenminister Antony Blinken reist nun erneut nach Ägypten, um die stockenden Bemühungen um einen Waffenstillstand und die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln voranzutreiben.
Blinken werde von Dienstag bis Donnerstag Gespräche mit ägyptischen Regierungsvertretern führen, teilte das US-Außenministerium mit. Die USA fungieren gemeinsam mit Ägypten und Katar als Vermittler zwischen Israel und der Hamas, da diese nicht direkt miteinander verhandeln. Nach Medienberichten wird Blinken diesmal nicht nach Israel reisen. Die USA sind der wichtigste Verbündete des jüdischen Staates.
Eine diplomatische Lösung sei „der beste Weg“, um sicherzustellen, dass die Bürger auf beiden Seiten der Grenze in ihre Häuser zurückkehren können, sagte US-Außenministeriumssprecher Matthew Miller. Man werde „weiterhin auf eine diplomatische Lösung drängen“, sagte er. „Wir glauben grundsätzlich, dass dies im Interesse aller Parteien ist.“
Israels Verteidigungsminister Galant sagte allerdings bei seinem Treffen mit US-Vermittler Hochstein, die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung des Konflikts mit der Hisbollah rücke immer weiter in die Ferne, weil die Miliz ihr Schicksal an die Hamas geknüpft habe und sich weigere, den Konflikt zu beenden. Auch Israels Ministerpräsident Netanjahu sagte bei einem Treffen mit Hochstein, die Bewohner der Grenzregion könnten „ohne eine grundlegende Veränderung der Sicherheitslage im Norden“ nicht zurückkehren. Hochstein versucht seit Monaten, die äußerst gefährliche Lage an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon zu deeskalieren. Israelischen und US-Medien zufolge warnte Hochstein hochrangige israelische Politiker vor den gefährlichen Folgen eines größeren Krieges, der sich weiter in die Region ausbreiten könne.
Das riesige Waffenarsenal der Hisbollah
Die Hisbollah verfügt über rund 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper. Im Vergleich zum letzten offenen Krieg mit Israel im Jahr 2006 hat sie ihr Arsenal damit rund zehnmal erweitert und könnte Israel deutlich härter treffen. Ähnlich wie die Hamas im Gazastreifen hat die Hisbollah im Libanon ein unterirdisches Tunnelsystem aufgebaut, von dem aus die Miliz ihre Kämpfe führen könnte. Die Miliz könnte täglich Tausende Raketen auf israelische Städte abfeuern und wichtige Infrastruktur zerstören. Doch ein solcher Krieg hätte nicht nur für Israel, sondern auch für den wirtschaftlich und politisch krisengebeutelten Libanon schwerwiegende Folgen.
Der iranische Präsident Massoud Peseschkian wirft Israel vor, sein Land in einen regionalen Krieg hineinziehen zu wollen. Als Grund nannte er die Tötung des Hamas-Außenchefs Ismail Haniya in der iranischen Hauptstadt Teheran vor gut sechs Wochen. „Israel versucht, uns durch die Tötung Haniyas in einen regionalen Krieg zu verwickeln. Wir behalten uns das Recht vor, uns zu verteidigen (…)“, sagte Peseschkian bei seiner ersten Pressekonferenz nach seinem Amtsantritt.
Er bekräftigte, dass die Islamische Republik nicht nach Atomwaffen strebe und verteidigte das Raketenprogramm seines Landes. „Wenn wir keine Raketen haben, werden sie (Israel) uns jederzeit bombardieren, wie in Gaza“, sagte der Regierungschef. „Wir werden unsere Fähigkeit zur Selbstverteidigung nicht aufgeben.“ Seit der Islamischen Revolution 1979 sind die USA und Israel Erzfeinde Teherans. Israelfeindliche Gruppen wie Hamas und Hisbollah werden von Teheran unterstützt.
Seit Ausbruch des Gaza-Kriegs vor knapp einem Jahr droht der Region ein Flächenbrand. Auslöser des Krieges im Gazastreifen war das Massaker in Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres, bei dem mehr als 1200 Menschen starben. Verübt hatten es Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen.