Wo der Widerstand langsam verschwindet

Wo der Widerstand langsam verschwindet

Führende Politiker der größten Nato-Länder diskutieren derzeit kontrovers darüber, ob das Bündnis die Ukraine bald zum Beitritt einladen sollte. Wie die FAS aus französischen, amerikanischen und ukrainischen Quellen erfuhr, tendieren Paris und London zu einem solchen Schritt. Auch in Washington, wo sich Präsident Joe Biden bisher dagegen aussprach, sehen Experten aus internationalen Regierungskreisen und Instituten eine vorsichtige Öffnung. Berlin ist immer noch dagegen.

Nach Angaben diplomatischer Quellen in Paris wurden diese Differenzen zuletzt beim Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz, den Präsidenten Amerikas und Frankreichs, Biden und Emmanuel Macron, und dem britischen Premierminister Keir Starmer in Berlin sichtbar. Wie die FAS erfuhr, hatte Paris den Eindruck, dass Amerika eine schnelle Einladung an die Ukraine zum Beitritt anstreben könnte, wenn die demokratische Kandidatin Kamala Harris die Präsidentschaftswahl im November gewinnt. Macron drängt schon seit Längerem auf einen solchen Schritt, doch Scholz hat sich für Nein entschieden.

Auch aus Washington heißt es, dass diese unterschiedlichen Ansätze im „Quad“ aus Amerika, Großbritannien, Deutschland und Frankreich beim Treffen der Gruppe am 18. Oktober zutage traten. Offenbar hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zuvor in Amerika deutlich gemacht, dass er im Gegenzug für territoriale Zugeständnisse der Ukraine an Russland mehr als nur vage Sicherheitsgarantien bekommen müsse – nämlich die Vollmitgliedschaft in der NATO. Diese Forderung ist auch Punkt eins des Siegesplans, den er kürzlich vorgelegt hat.

Reflexionen im Weißen Haus

In Washington heißt es, Biden, aber auch Macron und Starmer hätten in Berlin signalisiert, dass sie sich für die Idee erwärmen könnten. Von einer Zusage ist Washington noch weit entfernt, aber im Weißen Haus herrscht Offenheit für die Idee. Biden lag bis vor Kurzem auf einer Linie mit Scholz. Einerseits sagte er in einem Interview mit dem Time Magazine im Juni, dass Frieden bedeuten müsse, dass Russland „nie, nie, nie“ die Ukraine besetzte. Das heißt aber nicht, dass das Land „Teil der NATO“ werden muss. Biden ging damals sogar so weit zu sagen: „Ich bin nicht bereit, die NATOisierung der Ukraine zu unterstützen.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Dies entspricht einerseits der Linie der deutschen Bundeskanzlerin. Es besteht Grund zur Annahme, dass Scholz mit der Einladung der Ukraine keine Umstände schaffen will, die eine spätere Einigung mit Russland erschweren könnten. Er will wohl auch verhindern, dass die NATO durch nicht eingehaltene Versprechen an Glaubwürdigkeit verliert. Andererseits gab es schon immer Differenzen zwischen dem Kanzleramt und dem Weißen Haus. Biden scheut sich nicht zu sagen, dass er möchte, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Scholz ist hier vorsichtiger und sagt nur, dass er einen Sieg Russlands verhindern will.

Experten mit guten Kontakten zur Führung in Kiew und Washington bestätigen die vorsichtige Öffnung in Amerika. Einer von ihnen ist Benjamin Tallis, Leiter der Initiative Demokratische Strategie und Autor mehrerer Publikationen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Tallis berichtet, dass ihm nach Selenskyjs letztem Besuch in Amerika seine Begleiter und Experten in Washington mitgeteilt hätten, dass es nun „Raum für Bewegung in Richtung einer NATO-Einladung für die Ukraine“ gebe. Sollte dies geschehen, würden die Vereinigten Staaten auch andere Länder dazu drängen, sich in diese Richtung zu bewegen.

Kiew: Kein Kompromiss ohne Garantien

Eine ukrainische Quelle bestätigte dies gegenüber der FAS: Die Amerikaner hätten verstanden, dass ein Kompromiss zur Beendigung der Kämpfe nur möglich sei, wenn die Ukraine Sicherheitsgarantien bekäme, die sie vor einem neuen russischen Angriff schützen würden. Allerdings gibt es auch Einschränkungen. Einige Ukrainer bemerken, dass die amerikanische Regierung darüber nachdenkt, „das Verständnis des Konzepts einer Einladung neu zu definieren“. Was jetzt in Amerika angedacht wird, muss keine „Einladung im üblichen Sinne“ sein. „Die Wortwahl könnte so geändert werden, dass der Inhalt eher ein politisches Statement als eine echte Einladung wäre. Wie das aussehen könnte, wissen wir noch nicht.“ Und natürlich wären alle Überlegungen hinfällig, wenn Donald Trump Präsident würde.

Freundlich lächeln, hart verhandeln: Wolodymyr Selenskyj und Joe Biden im Oval Office des Weißen Hauses im September.dpa

Auch ukrainische Experten gehen davon aus, dass Bidens Einfluss mit jedem Tag, der dem Ende seiner Amtszeit näher rückt, abnimmt. „Amerikanische Diplomaten wissen, dass Bidens schwindendes politisches Kapital ein Problem darstellt“, hieß es. „Das macht es für ihn schwierig, Verbündete zu ermutigen, die zögern, die Ukraine einzuladen.“ Deutschland ist hier der schwierigste Partner – noch schwieriger als Ungarn oder die Türkei.

Doch nicht nur in Amerika, sondern offenbar auch in der Ukraine herrscht Bewegung. Präsident Selenskyj scheint erkannt zu haben, dass westliche Verbündete seinem Land möglicherweise nicht genügend Hilfe leisten, um alle Gebiete zurückzuerobern, die Russland seit der ersten Invasion im Jahr 2014 und erneut nach 2022 völkerrechtswidrig erobert hat. Hinweise gibt es daher schon seit Längerem dass Kiew im Gegenzug für den NATO-Beitritt zu territorialen Kompromissen bereit sein könnte. Es bleibt immer die Möglichkeit offen, dass Zugeständnisse zeitlich begrenzt wären oder dass ein vorübergehender faktischer Verzicht nichts an der völkerrechtlichen Grundvoraussetzung für einen vollständigen Abzug Russlands ändern würde.

Das Deutschland-Modell

Spätestens im Sommer 2023 wurden solche Überlegungen öffentlich, als Zelenskys Anwaltskanzleichef Andrij Jermak zusammen mit seinem engen Berater, dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, das Beispiel Deutschland und die Teilung Deutschlands ins Gespräch brachte. Damals sagte Rasmussen zusammen mit Jermak in einer Pressekonferenz, dass nach der Teilung infolge des Zweiten Weltkriegs nur der westliche Teil Deutschlands in die NATO integriert worden sei. „Das Gleiche könnte man im Fall der Ukraine tun.“ Sie könnten beschließen, den Hilfeartikel des NATO-Vertrags „nur auf Gebiete anzuwenden, die unter der Kontrolle der Kiewer Regierung stehen“. Dies könnte kompliziert sein, da sich die Front während des Krieges ständig verschiebt, aber das Problem kann durch detaillierte Verhandlungen gelöst werden. Mit dieser letzten Bemerkung antwortete Rasmussen damals auf die Frage, ob die NATO mit einer solchen Vereinbarung unweigerlich in einen Krieg hineingezogen würde.

Im Laufe der Zeit hat Präsident Selenskyj auch immer wieder Dinge gesagt, die als Bereitschaft zu territorialen Kompromissen interpretiert werden können. So sagte er im August 2023 einem ukrainischen Fernsehsender, wenn sein Land genügend militärischen Druck aufbaue, könne die „Entmilitarisierung Russlands auf der ukrainischen Krim“ auch „politisch“ erreicht werden. Auffällig an dieser Formulierung war, dass er nur von „Entmilitarisierung“ und nicht von „Abzug“ sprach. Allerdings bestritten ukrainische Regierungsvertreter damals, dass der Präsident damit die Forderung nach vollständiger Wiederherstellung der territorialen Integrität aufgegeben habe.

Aufhorchen ließ auch ein Interview mit der britischen BBC im Juli 2024. Selenskyj wies darauf hin, dass eine Schwächung Russlands auf dem Schlachtfeld die Verhandlungsposition der Ukraine verbessern würde, aber letztlich nicht bedeute, „dass alle Gebiete mit Gewalt zurückerobert werden“. „Die Macht der Diplomatie“ könnte hier helfen. „Wenn wir Druck auf Russland ausüben, können wir meiner Meinung nach einer diplomatischen Lösung zustimmen.“

Selenskyj hofft auf Amerika

Ukrainische Sachverständige haben der FAS nun geschildert, was dies für die Gegenwart bedeuten könnte. Selenskyj hofft auf einen amerikanischen Vorschlag in dem Sinne, dass die Ukraine und die von ihr derzeit kontrollierten Gebiete unter den Schutz von Artikel 5 der NATO gestellt werden, möglicherweise mit einer „Pufferzone“ von etwa 50 Kilometern vor der Front. Kiew würde dann erklären, dass es nicht versuchen werde, den besetzten Rest mit Gewalt zurückzuerobern.

Die Ukrainer, so heißt es, wollen einen solchen Plan nicht selbst vorlegen und wollen deshalb, dass Amerika die Initiative ergreift. Der Grund für ihr Zögern ist die Angst vor inländischen Protesten gegen Gebietsabtretungen. Die Ukrainer befürchten zudem, dass Friedenssignale von ihrer Seite einigen Verbündeten als Vorwand für weniger Waffenlieferungen dienen könnten. Im Westen könnte man dann fragen: Warum sollten wir ein Land bewaffnen, das bereits zum Frieden bereit ist?

Präsident und Berater: Wolodymyr Selenskyj und Anders Fogh Rasmussen vor dem „Haus der Monster“ – so heißt dieser Teil des Kiewer Präsidentenamtes.AFP

Ukrainer mit Kenntnis der Verhandlungen nehmen jedoch wahr, dass Amerika den gewünschten Vorschlag nicht aus eigener Kraft unterbreitet. Ihre Interpretation: Das Weiße Haus ist der Meinung, dass eine solche Initiative von Kiew ausgehen muss, das dann die Verantwortung auf Selenskyj schieben würde.

Die Gründe für diese Haltung Washingtons sind plausibel: Es wäre für Amerika (und Deutschland) tatsächlich schwierig, allein einen Kompromiss nach dem Motto „Land gegen NATO-Einladung“ vorzuschlagen, weil sie das Mantra „Nichts über die Ukraine“ verwenden. seit Jahren ohne Ukraine“. Wenn jemand im Westen von sich aus territoriale Zugeständnisse vorschlagen würde, könnte das in der Ukraine zu einer Dolchstoßlegende führen: Wer dort in Zukunft einen möglichen Waffenstillstand in Frage stellen wollte, könnte dann sagen, der Verzicht sei erzwungen worden auf das Land durch den Westen.

Pokerface am Verhandlungstisch

In Berichten über Kontakte zwischen Ukrainern und Amerikanern ist von einem gewissen „Pokerface“ die Rede – einer eher lauernden Haltung, bei der jede Seite von der anderen erwartet, dass sie den ersten Schritt macht. Es scheint auch ein sehr reales Kommunikationsproblem zu geben: Selenskyj und seine rechte Hand, Anwaltskanzleichef Yermak, sprechen in Verhandlungen mit Amerikanern oft Englisch, anstatt den Dolmetschern Zeit zum Übersetzen zu geben. Allerdings ist Selenskyjs Englisch nur mittelmäßig und Yermaks ausgesprochen schlecht. Es heißt, dass Amerikaner im direkten Kontakt mit den beiden führenden Politikern der Ukraine oft nicht sicher seien, ob sie sie richtig verstehen. Sie können auch nicht feststellen, ob das, was sie selbst erklären, richtig anerkannt wird.

Trotz dieser Schwierigkeiten arbeitet ukrainischen Quellen zufolge derzeit eine Gruppe amerikanischer Beamter im Nationalen Sicherheitsrat daran, eine Einladung der NATO an die Ukraine zu ermöglichen. Offenbar ist das Sprachproblem nun weniger gravierend, denn auf ukrainischer Seite hat Vizepremierministerin Olha Stefanyschina gemeinsam mit Generalstabschef Anatoli Barhylewitsch die Detailverhandlungen übernommen. Und Stefanyschinas Englisch ist gut.

In den nun laufenden Gesprächen geht es auch um die Frage, ob die Verbündeten den ukrainischen Streitkräften erlauben sollten, westliche Langstreckenwaffen gegen Ziele in Russland einzusetzen. Diese Forderung taucht in Punkt zwei des ukrainischen Siegesplans auf, wurde jedoch bisher von Deutschland und insbesondere Amerika abgelehnt. Frankreich und Großbritannien hingegen sagen eher Ja.

Allerdings gibt es inzwischen Berichte aus Paris, dass man eine Annäherung zwischen Frankreich und Amerika sehe. Sollte Harris die Präsidentschaftswahl gewinnen, könnte sie ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen, eine solche Erlaubnis zu erteilen. Ukrainische Insider glauben auch erkennen zu können, dass das Weiße Haus hierher zieht und dass die „Pro“-Argumente langsam die „Dagegen“-Argumente überwiegen. Nach dieser Darstellung wäre Berlin in dieser Frage dann allein. Die Bundesregierung wollte sich dazu gegenüber der FAS nicht öffentlich äußern.

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