Der FC Bayern trifft in der Champions League auf Schachtjor Donezk. Im SPORT1-Interview spricht Donezk-Boss Sergiy Palkin über den surrealen Kriegsalltag der Spieler, über die Herausforderungen des Vereins – und verrät, warum sie trotz allem nicht aufgeben.
Der Ton von Sergiy Palkin ist ernst. Wenn der Donezk-Chef über Raketen- und Drohnenangriffe spricht, über den Alltag in der Ukraine, klingt alles seltsam, fast surreal.
Erst wenn es um Sport geht – um Geschichten aus der Vergangenheit und um Ziele und Visionen – blüht er auf, lacht und ist positiv.
Für den 50-Jährigen ist der Krieg zu einem traurigen Alltag geworden. Palkin ist seit über 20 Jahren im Verein. Schachtjor Donezk ist ein großer Teil seines Lebens. Mit zehn Meistertiteln, elf Pokalsiegen und dem Gewinn des UEFA-Pokals (2009) ist der Verein nach Dynamo Kiew der zweiterfolgreichste Fußballverein des Landes.
Donezk-Boss glaubt, dass er gegen Bayern eine Chance hat
In der vergangenen Saison gewannen die Ukrainer das Double aus Meisterschaft und Pokal. In der heimischen Liga liegen sie derzeit auf dem dritten Platz, in der Champions League liegt Donezk mit vier Punkten aus fünf Spielen im unteren Drittel.
Im exklusiven Gespräch mit SPORT1 Palkin gibt Einblicke in sein Seelenleben, schildert den nicht vorhandenen Alltag in Kriegszeiten, die immensen logistischen Herausforderungen – und warum das Fußballspielen trotz aller Widrigkeiten so wichtig ist.
Auch wenn Sport in der Ukraine längst zur Nebensache geworden ist, sieht er seinen Verein vor dem Duell gegen den FC Bayern (Dienstag, ab 21 Uhr im LIVETICKER) nicht chancenlos.
Donezk-Chef schwärmt von Deutschland
SPORT1: Herr Palkin, am Dienstagabend empfängt Ihr Verein den FC Bayern in Gelsenkirchen. Können sich die Spieler, die Vereinsmitarbeiter und sogar die Familien angesichts des Krieges überhaupt auf den Sport konzentrieren?
Sergiy Palkin: Es ist unglaublich schwierig. Aber wir versuchen, das Unmögliche möglich zu machen. Das ist es, was unsere Spieler antreibt. Aber natürlich: Es ist nicht einfach.
SPORT1: Echte Heimspiele Ihrer Mannschaft gab es in Donezk schon lange nicht mehr. Seit der Annexion der Krim (2014) haben Sie Ihre Heimspiele in Kiew ausgetragen. International hast du letztes Jahr in Hamburg gespielt und diese Saison spielst du in Gelsenkirchen. Fühlen Sie sich dort wohl?
Palkin: Wir haben ein wirklich gutes Verhältnis zu den Menschen in Deutschland. Das war großartig in Hamburg und jetzt ist es auch großartig auf Schalke. Überall sind echte Fußballfans und die Stadien sind voll – egal, gegen welchen Gegner wir spielen. Das macht wirklich viel Spaß.
„Es ist geistig und körperlich hart“
SPORT1: Und doch spielt man immer weit weg von zu Hause. Sie spielen sogar die heimischen Liga- und Pokalspiele in Kiew.
Palkin: Egal, wo wir am Ende spielen, wir können nicht so gut sein, wie wir gerne wären. Allein die ganze Logistik ist verrückt. Manchmal dauert es ein bis zwei Tage, bis wir an unserem Veranstaltungsort ankommen. Geistig und körperlich ist es hart. Aber wir leben in dieser Welt. Dennoch sind wir für viele Menschen eine Inspiration. Wir spielen seit zehn Jahren auswärts und wohnen seit zehn Jahren nicht mehr dort. Unser Verein und unsere Spieler stehen symbolisch für die gesamte ukrainische Bevölkerung: Trotz aller Widrigkeiten zeigen wir den Menschen in unserer Heimat, dass wir niemals aufgeben. Trotz allem wollen wir gute Ergebnisse erzielen und guten Fußball spielen.
SPORT1: Sie haben die Logistik angesprochen: Wie lange dauert es bis nach Gelsenkirchen? Den Bayern wird es wohl in ein paar Stunden gelingen.
Palkin: Zunächst müssen wir mit dem Bus von Kiew, wo wir uns gerade befinden, nach Lemberg fahren. Dies dauert etwa sieben bis acht Stunden. Anschließend übernachten wir dort im Hotel und fahren dann etwa drei bis vier Stunden nach Rzeszów in Polen. Anschließend nehmen wir den Flieger Richtung Düsseldorf. Dies dauert etwa zwei bis drei Stunden. Dann müssen wir noch ein bis zwei Stunden mit dem Bus nach Gelsenkirchen fahren. Die reine Reisezeit beträgt voraussichtlich bis zu 20 Stunden – Hotelübernachtungen und sonstige Zwischenstopps sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Kein Verein in Europa muss so viel reisen. Wir könnten damit um die Welt fliegen.
„Wir haben jede Nacht Drohnen- und Raketenangriffe“
SPORT1: Und sportlichen Druck hast du immer noch, oder?
Palkin: Jeder erwartet Ergebnisse von uns. Doch viele Menschen vergessen, was sich dahinter verbirgt. Die geistige und körperliche Belastung ist enorm. Es kostet uns auch deutlich mehr als andere Teams. In jeder Hinsicht: Wir zahlen einen enorm hohen Preis für Fußball.
SPORT1: Wie sieht Ihr Alltag bzw. der Ihrer Spieler in der Ukraine aus?
Palkin: Wir haben jede Nacht Drohnen- und Raketenangriffe aus Russland. In manchen Nächten schlafen wir überhaupt nicht, weil wir an Ort und Stelle Schutz suchen müssen. Wir leben keinen normalen Alltag. Weder die Spieler noch deren Familien. Wir müssen und wollen Verantwortung für unsere Spieler übernehmen. Wir müssen ihre Sicherheit so gut wie möglich gewährleisten. Wir können es nicht zu 100 Prozent garantieren, weil es Krieg ist. Man kann nicht vorhersagen, was morgen passieren wird. Jeden Morgen gibt es 50, 100, bis zu 150 Drohnen- und Raketenangriffe. Es ist schwer, in dieser Umgebung zu leben. Das Gebot lautet: Schutz und Sicherheit und dann kommt irgendwann der Fußball.
SPORT1: Gab es in letzter Zeit einen besonders gefährlichen Moment?
Palkin: Vor ein paar Monaten hatten wir ein Auswärtsspiel in Kryvyi Rig in der Ostukraine. Das Hotel, in dem wir übernachten sollten, wurde kurz vor unserer Ankunft von Raketen getroffen und zerstört. Insgesamt gab es vier Todesfälle. Es war schwierig, die Spieler, Trainer und Familien davon zu überzeugen, trotzdem zu gehen. Aber am Ende haben wir konkurriert.
SPORT1: War dann vor Ort alles sicher?
Palkin: Das Spiel konnte aufgrund eines weiteren Raketenalarms nicht beendet werden. Das ist uns bis heute nicht gelungen. Ich bin immer noch sehr stolz auf unsere Spieler, die unter diesen Bedingungen arbeiten. Es ist gefährlich, aber es zeigt den Menschen um uns herum unseren unzerstörbaren Willen – und dass wir niemals aufgeben. Das gibt den Ukrainern Hoffnung. Das ist unser Schicksal.
„Menschen können sich an alles gewöhnen“
SPORT1: Sie sind seit über 20 Jahren im Verein. Der Teil von Schachtjor Donezk ist ein großer Teil Ihres Lebens. Wenn Sie in die Augen Ihrer Spieler blicken, glauben Sie, dass Sie sich jemals an diese Umstände gewöhnen können?
Palkin: Das Problem ist: Menschen können sich an alles gewöhnen. Wir haben uns daran gewöhnt, auch wenn man es eigentlich nicht kann. Jeden Tag sterben viele Menschen, jeden Tag gibt es Raketenangriffe und unsere Infrastruktur und Energieversorgung wird ständig zerstört. Wir haben dieses Leben angenommen. Aber es ist definitiv anders als im Rest Europas: Man kann nichts planen. Nicht für nächstes Jahr oder nächste Saison. Man kann nicht einmal einen Monat planen.
SPORT1: Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Februar 2022 kündigte die FIFA eine Sonderregelung an: Ausländische Fußballspieler und -trainer könnten ihre Verträge mit russischen oder ukrainischen Vereinen kündigen und ablösefrei zu diesen wechseln. Wie schwer war das für Sie?
Palkin: Wir haben dadurch über 70 Millionen Euro verloren. Die FIFA behauptet immer, dass wir alle eine Fußballfamilie sind. Aber niemand hat uns unterstützt. Niemand hat sich um unsere Probleme gekümmert, wir wurden im Stich gelassen. Niemand fragte, wie sie uns helfen könnten. Wir haben so oft an die Tür der FIFA geklopft und wollten Kontakt aufnehmen. Aber wir bekamen nie eine Antwort. Am Ende haben nur die Agenturen und Berater gewonnen. Sie nutzten diese Situation aus, um Spieler von A nach B zu transferieren und überall Geld zu verdienen. Anstatt dass wir das Geld bekamen, steckten sie es ein. Das ist auch der Grund, warum wir Spieler fast nur vermieten.
SPORT1: Wie schwierig ist es, Spieler von einem Wechsel nach Donezk zu überzeugen?
Palkin: Sehr schwierig. Wenn wir mit den Spielern sprechen, versuchen wir ihnen das Gefühl zu geben, dass wir alles tun, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Und Sicherheit und Schutz haben für uns oberste Priorität. Allerdings können wir dies nicht zu 100 Prozent garantieren. Die Überzeugung ist sehr schwierig. Aber wir machen weiter.
So denkt Palkin über Mudryk
SPORT1: Einer der Spieler, die Sie verkauft haben, ist Mykhaylo Mudryk – eines der größten Talente im ukrainischen Fußball, der mit Ihnen im Verein trainiert hat. Mudryk wechselte im Januar 2023 für 70 Millionen Euro zum FC Chelsea. Gerade in dieser Saison bleibt er deutlich hinter den Erwartungen zurück. Sind Sie noch in Kontakt?
Palkin: Wir haben ein wirklich gutes Verhältnis und viele Kontakte. Er ist sehr professionell und gibt immer sein Bestes. Er hat alles, was er braucht, um sich bei Chelsea zu behaupten. Ich sehe das so: Wer mit einem Ferrari nicht zurechtkommt, sollte sich vielleicht ein normales Auto kaufen (lacht).
SPORT1: Wer kann in London nicht einen Ferrari fahren?
Palkin: Ich meine keine konkreten Namen, sondern den Verein im Allgemeinen. Aber genau das ist Teil unserer Philosophie. Wir haben viel Arbeit in die Akademie gesteckt, um die jungen ukrainischen Spieler auszubilden und sie dann weiterzuverkaufen.
SPORT1: In Ihrem Kader sind überwiegend ukrainische Spieler vertreten. Außerdem spielen sieben Brasilianer für Sie. Warum ist das so?
Palkin: Das ist Teil unserer Strategie. Wir kennen den brasilianischen Markt sehr gut, das ist unser Markt. Wir sind hier seit über 20 Jahren aktiv. Wir lieben auch die Art und Weise, wie Brasilianer Fußball spielen: attraktiv und vorzeigbar. Das wollen wir auch.
Timoschtschuk? „Traurig über das, was passiert ist“
SPORT1: Wie zum Beispiel Douglas Costa. Ist er so etwas wie ein Vorbild für Ihren Weg?
Palkin: In jedem Fall. Wir haben ihn für relativ wenig Geld geholt und ihn dann für 30 Millionen Euro an den FC Bayern München verkauft. Aber wir hatten auch sehr gute andere Spieler.
SPORT1: Ein weiterer Spieler, der sowohl für Sie in Donezk als auch für Bayern in München gespielt hat, ist Anatoliy Tymoshchuk. Hatten Sie erneut Kontakt?
Palkin: Nein, ich habe überhaupt keinen Kontakt zu ihm. Ich bin sehr traurig darüber, was passiert ist und wie er sich verhält. Aber das ist seine Geschichte, eine schlechte Geschichte. Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
SPORT1: Besteht die Chance, dass er irgendwann zur Besinnung kommt und nach Donezk zurückkehrt?
Palkin: NEIN! Er wird auf keinen Fall jemals zurückkommen.
Palkin enthüllt seinen größten Traum
SPORT1: Was sind Ihre sportlichen Ziele für diese Saison?
Palkin: Natürlich wollen wir wieder Meister der Liga werden. Auch wenn das schwierig sein könnte. Wir können uns keine größeren Ausrutscher mehr leisten. Und in der Champions League ist unser Ziel der Einzug in die K.-o.-Phase.
SPORT1: Ein Sieg gegen die Bayern sollte nicht schaden. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?
Palkin: Wir haben immer Chancen. Das ist Fußball. Das ist es, was wir am Fußball lieben. Niemand kann vorhersagen, wie es ausgehen wird. Wir können gegen jedes Team gewinnen. Wir müssen einfach das Unmögliche möglich machen.
SPORT1: Und was ist dein größter Traum?
Palking: Um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden.