Der bisher letzte Wintertransfer, den der 1.FC Heidenheim vollzogen hat, könnte in ein Lehrbuch für Wintertransfers aufgenommen werden. In der Personalie vom 30. Januar 2021 steckte alles, was man über Spielerwechsel im Winter lernen kann: In nahezu jeder Hinsicht vollbrachten die Heidenheimer damals ein gutes Werk – weil sie einen Spieler, zunächst leihweise, aus einem unglücklichen Aufenthalt in einer fremden Liga erlösten, und zwar im sicheren Wissen, dass sie diesen Spieler genauso glücklich machen könnten wie der Spieler sie.
Der Stürmer Tim Kleindienst kehrte also nach einem halben Jahr im belgischen Gent zurück auf die Ostalb, wo er zuvor schon zwei Jahre gespielt hatte. In Belgien hatten sie Kleindienst kaum mitspielen lassen, weshalb ihm, zurück in Heidenheim, vor lauter Glück gleich elf Rückrundentore rausrutschten. Im Sommer 2021 wurde die Leihe in einen Kauf umgewandelt, Kleindienst blieb. Und schoss ein Tor nach dem anderen. Und stieg mit Heidenheim in die erste Bundesliga auf. Und traf auch dort. Und wurde deutscher Nationalspieler, nicht ohne vorher zu Borussia Mönchengladbach gewechselt zu sein und seinen Heidenheimern eine Basisablöse von acht Millionen Euro eingebracht zu haben.
:Imagepflege auf Maschsee-Art
Mal wieder ein Trainerwechsel bei Hannover 96: Obwohl Stefan Leitl noch Chancen auf den Bundesliga-Aufstieg hatte, tritt nun Rückkehrer André Breitenreiter den Dienst an. Und der lobt sogar die Arbeit seines Vorgängers.
Man kann sagen, dass die Heidenheimer in den Wintertransferperioden der letzten Jahre ungeschlagen sind. Sie haben einen einzigen Wintertransfer gemacht, und der war ein Treffer. Auch dieser Aspekt gehört zur Erfolgsgeschichte der Heidenheimer, die nicht nur vieles von dem, was sie gemacht haben, richtig gemacht haben. Es war eben oft auch richtig, wenn sie nichts gemacht haben. An den Wintertransfers, die von den anderen 35 deutschen Erst- und Zweitligisten mitunter in großer Hektik getätigt wurden, haben sie sich nie beteiligt, vielleicht, weil man auf der Ostalb im Winter mit Schneeschippen beschäftigt ist. Vielleicht aber auch, weil mit Wintertransfers oft Fehleinschätzungen aus dem Sommer korrigiert werden. Und die Heidenheimer hatten bei ihren Sommertransfers eine Trefferquote, die der Trefferquote des Stürmers Kleindienst nicht unähnlich war. Fehleinschätzungen? Das war eine Disziplin für die anderen.
Gerade mal ein paar Tage hat das aktuelle Wintertransferfenster nun geöffnet, und kurioserweise kommen die ersten Meldungen: aus Heidenheim. Am Freitag kam die Nachricht, wonach sich der georgische Zweitliga-Torjäger vom Karlsruher SC, Budu Zivzivadze, 30, ebenso dem 1.FC Heidenheim anschließt wie der Linksverteidiger Frans Krätzig, 21, den der FC Bayern bislang zum VfB Stuttgart verliehen hatte. Dort wurde der technisch bewanderte, aber nicht sehr athletische junge Mann allerdings für zu leicht befunden, was nun in einem aparten Experiment enden könnte – jenem, Krätzig wie den ebenfalls dem FC Bayern gehörenden Paul Wanner, 19, auf die Ostalb zu schicken, wo athletisches Spiel eine Grundvoraussetzung darstellt.
Die drei besten Spieler gehen lassen, dazu die Doppelbelastung: Das war vielleicht doch ein bisschen zu viel
Die frühen Heidenheimer Zuckungen auf dem ungewohnten Wintermarkt sind aber mehr als nur eine nette Fußnote. Nimmt man die Geschichte dieses Klubs in den Blick, könnte man zu dem Schluss kommen, dass sich der 1.FC Heidenheim nun an einem Ort befindet, an dem er schon lange vermutet wird: an der Grenze. An der natürlichen Grenze eines Standorts, der viel größer geworden ist, als das System das jemals vorgesehen hat – dank örtlicher Sponsoren und der Arbeit zahlreicher rechtschaffener Hände, die ansonsten bis in den April hinein Schnee schippen. Wie oft haben all die Heidenheimerinnen und Heidenheimer solche Sätze schon gehört: Kompliment zum Aufstieg, aber lange werdet ihr in der dritten Liga nicht bleiben! Respekt, dass ihr es in die zweite Liga geschafft hat, aber ihr wisst ja selber, dass da vielleicht Ulm hingehört, aber doch nicht ihr! Ach, und genießt das eine Jahr in der ersten Liga, bevor ihr als Tabellenletzter wieder absteigt!
Es ist die Geschichte dieses Klubs, des Vorstandschefs Holger Sanwald und des Trainers Frank Schmidt, dass sie all die Grenzen, die sie selbst nie definiert haben, immer überschritten haben. Deshalb markieren die ungewohnten Winteraktivitäten nun womöglich einen vereinshistorischen Punkt. Die drei besten Spieler gehen lassen (Tim Kleindienst, Jan-Niklas Beste, Eren Dinkci), Doppelbelastung aus Bundesliga und Conference League, das tückische zweite Erstligajahr, keine teuren Zugänge – das war in dieser Saison vielleicht doch ein bisschen zu viel. Das könnte sie jetzt sein, die Grenze. Was keine Schande wäre – aber eben zu einer Veränderung der Vereinspolitik geführt hat und auch dem Eingeständnis gleicht, dass sie sich im Sommer bei der Transferpolitik ausnahmsweise ein wenig verschätzt haben.
Es war wohl doch zu viel verlangt vom 19-jährigen Wanner, das gesamte Offensivspiel zu tragen; zu viel verlangt vom 26-jährigen Weltenbummler Leo Scienza, Niklas Beste zu ersetzen; zu viel verlangt vom hauseigenen Stürmer Marvin Pieringer, nicht mehr Kleindiensts Nebenmann, sondern der neue Kleindienst zu sein. Ab sofort darf Pieringer wieder der Nebenmann sein, nun vom Winterzugang Zivzivadze, der den KSC mit zwölf Treffern auf den zweiten Platz der zweiten Liga geschossen hat.
Mit vier Punkten Rückstand auf den 15. Tabellenplatz steckt der 1.FC Heidenheim in einem Abstiegskampf, der so streng werden könnte wie der Winter auf der Ostalb. Ehrgeizig, wie sie in Heidenheim sind, ärgert sie das fürchterlich, aber realistisch, wie sie sind, verwundert es sie auch nicht. Sie waren neben Bayer Leverkusen und dem VfB Stuttgart einer der Overperformer der Vorsaison, aber sie haben immer gewusst, dass sie kein natürlicher Achter in der Bundesliga sind. Und so werden sie auch die weiteren Spekulationen vom Wintertransfermarkt mit Fassung tragen – etwa jene, dass Jan-Niklas Beste bei Benfica Lissabon gerade so unglücklich sei wie Tim Kleindienst damals in Belgien. Dass Beste aber natürlich nicht mehr nach Heidenheim wechseln wird, sondern vielleicht nach England oder nach Leipzig oder zum VfB Stuttgart.