Der Kieler Professor Steffen Gailberger wird in Baden-Baden mit dem Kulturpreis der deutschen Sprache 2024 ausgezeichnet. Er erhält den mit 5.000 Euro dotierten Initiativpreis für sein Förderkonzept „Leseband“, mit dem Grundschüler besser lesen lernen sollen. Gailberger ist seit April Professor für Literatur- und Mediendidaktik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
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Wir lesen ständig schnell etwas auf dem Handy. Lesefunktionen haben das längst teilweise für uns übernommen. Ist Lesen durch die Digitalisierung wichtiger denn je oder verliert es an Bedeutung?
Prof. GailbergerMit zunehmender Digitalisierung gibt es immer weniger Jobs, in denen nichts gelesen werden muss. Die Bedeutung des Lesens nimmt also nicht ab, sondern eher zu. Das Leseverstehen wird teilweise komplizierter – zum Beispiel durch Fake News. Gleichzeitig wird das Lesen im eigentlichen Sinne immer schwieriger.
Inwiefern?
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Wenn Schüler täglich auf Instagram oder Tiktok rumhängen, lesen sie nur ganz kurze Texte von ein, zwei Sätzen. Da stellen sich schnell Erfolge ein, oder ich swipe einfach weiter. Das wirkt sich negativ auf die Konzentration und den Leseatem aus. Das ist etwas anderes, als wenn man im Deutsch- oder Geschichtsunterricht eine ganze Seite lesen muss. Ich kann nicht einfach aufhören zu lesen, sonst verstehe ich den Text nicht. Wenn ich als Erwachsener zum Beispiel auf einem Beipackzettel wichtige Informationen nicht finde, bin ich vielleicht sogar in Gefahr.
Manchen Menschen fehlt die Motivation, ein ganzes Buch zu lesen. Macht Kindern das Lesen keine Freude oder fehlt ihnen der Spaß, weil ihnen die Grundkenntnisse fehlen?
Es gibt seit jeher Kinder, die ab der zweiten oder dritten Klasse fließend lesen können und ein Buch nach dem anderen verschlingen. Sie kommen meist aus Elternhäusern, in denen Lesekompetenz großgeschrieben wird: Sie lesen abends vor, ihre Eltern lesen selbst und sind Vorbilder, und ihre Großeltern schenken ihnen an Feiertagen Bücher. Es gibt aber eine große Gruppe von Kindern, denen zu Hause gar nicht vorgelesen wird. Vielen von ihnen fällt es schwer, auch nur einen ganzen Satz zu lesen. Laut der Iglu-Studie können 25 Prozent unserer Viertklässler am Ende der Grundschule einen erzählenden Text mittlerer Länge lesen, ihn aber nicht verstehen. Sie müssen sich so sehr auf das Lesen selbst konzentrieren, dass sie nicht auch noch dem Inhalt ihre Aufmerksamkeit schenken können.
Im OECD-Vergleich lesen unsere Kinder in der Schule deutlich weniger als Kinder in anderen Ländern. Hier kommt das „Leseband“ ins Spiel, das täglich 20 Minuten zusätzliche verpflichtende Lesezeit vorsieht. Was bringt diese zusätzliche Zeit?
Deutsche Schüler lesen im Unterricht 50 Minuten weniger pro Woche als der EU-Durchschnitt. Weil aber viele Kinder in ihrer Freizeit nicht lesen, müssen wir die Vorlesezeit im Unterricht deutlich erhöhen, um den Rückstand aufzuholen. Natürlich geht es hier nicht um eine Leseweltmeisterschaft, sondern vielmehr darum, unseren Kindern eine Chance zu geben, später eine Ausbildung zu beginnen. Aber mehr Vorlesezeit allein hilft nicht. Wir müssen ganz genau hinschauen: Welche Texte und Methoden eignen sich für welche Kinder? Das ist wie beim Arztbesuch. Ich muss erstmal diagnostizieren, wo das Problem liegt und dort ansetzen. Das machen wir. Und dann führt eine Steigerung der Quantität auch zu einer Steigerung der Qualität.
Was ist das „Lesezeichen“?
Insgesamt arbeiten bereits sieben Bundesländer mit dem „Leseband“ zusammen. In Schleswig-Holstein nehmen 30 Grundschulen an dem wissenschaftlich begleiteten Programm teil. Neben dem regulären Deutschunterricht wird fächerübergreifend eine verpflichtende tägliche Vorlesezeit von 20 Minuten in den Schultag integriert. Die Leseförderung erfolgt über verschiedene Methoden: Vorlesen und Zuhören, Mitlesen im Chor, Tandemlesen, Lesen mit Ich-Du-Wir-Würfel, Lesetheater oder Lesen mit Hörbüchern. Darüber hinaus bieten bereits viele Grundschulen im Land diese Leseförderung freiwillig an. Finanziert wird das Pilotprojekt von der Auridis-Stiftung und der Unternehmerstiftung für Chancengleichheit.
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Wenn ein Kind Schwierigkeiten beim Lesen hat, erzeugt erzwungenes Vorlesen dann nicht zusätzlichen Druck und ist es nicht kontraproduktiv?
Wir wissen tatsächlich aus empirischen Untersuchungen, dass es Kinder gibt, die Angst vor dem lesebezogenen Deutschunterricht haben – insbesondere davor, unvorbereitet vorlesen zu müssen. Wenn ich als Lesepädagogin etwas verbieten könnte, dann wäre es wiederum unvorbereitetes Vorlesen in schwächeren Lerngruppen. Im „Leseband“ hingegen setzen wir auf Methoden, bei denen kompetente Leser etwas vorlesen und die schwächeren Kinder leise oder halblaut mitlesen können. Durch die auditive Entlastung haben sie die Möglichkeit, sich besser auf den eigenen Lesevorgang und die Blickbewegung zu konzentrieren. So entsteht ein angstfreies Setting.
Und wie ist es mit Grundschülern, die längst zu Schnelllesern geworden sind? Ist ihnen die Vorlesestunde nicht langweilig?
Eltern befürchten oft, dass ein starkes Kind unter solchen Fördermaßnahmen leiden würde. Allerdings profitieren sowohl starke als auch schwache Kinder in ihrer Lesekompetenz. Leseratten werden zudem durch differenzierte Maßnahmen, wie zum Beispiel stille Lesezeiten, gefördert.
Reicht es aus, sich auf die Grundkenntnisse zu konzentrieren?
Manche unserer Kollegen kritisieren, dass wir uns im Leseband zunächst auf Basiskompetenzen konzentrieren. Sie befürchten, dass dabei andere Aspekte wie Vorstellungskraft oder ästhetisches Empfinden auf der Strecke bleiben könnten. Für die schwächsten Leser bietet sich allerdings ein Vergleich an, der jedem klar sein dürfte: Ich kann mein Auto nicht im vierten Gang bergauf fahren, bergab aber ganz problemlos im ersten.
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Seit einem halben Jahr läuft die Leseband nun in Schleswig-Holstein. Welche Erkenntnisse habt ihr gewonnen und was bringt das Ganze?
Wir messen das über Lesetests. Ich bin gerade dabei, die ersten Testtermine auszuwerten und kann deshalb nur vorsichtig über einzelne Ergebnisse ausgewählter Schulen sprechen. Die sind im Februar gestartet und wir sehen schon jetzt eine statistisch signifikante Verbesserung mit teilweise sehr hoher Effektstärke. In Hamburg haben wir nach drei Jahren Förderung gezeigt, dass wir nicht nur die Lesegeschwindigkeit deutlich steigern konnten, sondern dass sich auch Leseverständnis, Rechtschreibung und Mathematikleistungen verbessert haben. Das zeigt, dass alle Fächer von der Leseförderung profitieren, weil die Kinder auch dort die Texte und Aufgaben besser verstehen. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum das Leseband in diesem Jahr mit dem „Kulturpreis Deutsche Sprache“ ausgezeichnet wird.
CN