Wie stark steigen die Preise?: X soll künftig die Inflation vorhersagen

Wie stark steigen die Preise?
X soll künftig die Inflation vorhersagen
24.09.2023, 14:58 Uhr
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Kann maschinelles Lernen helfen, die Inflationserwartungen zu messen? Ja, sagen Forscher der Frankfurt School of Finance & Management. Ihre Datengrundlage: Beiträge in sozialen Medien.
Die Frankfurt School of Finance & Management hat einen Inflationserwartungsindex entwickelt, der auf Social-Media-Beiträgen der Plattform Twitter basiert, der zuletzt in X umbenannt wurde. Sie sind die Leiterin des Projekts. Wie sind Sie vorgegangen?
Nora Lamersdorf: Die Datenquelle für unseren Index waren etwa zehn Millionen deutsche Tweets, die seit 2011 gepostet wurden. Zuerst haben wir diese über eine sogenannte API heruntergeladen. Das ist eine Programmierschnittstelle, mit der zusätzliche Funktionen freigeschaltet werden können. Potenziell relevante Tweets haben wir mithilfe bestimmter Stichwörter ausgewählt. Das sind dann Wörter wie „Preise“, „teuer“, „billig“ oder „Inflation“. Aus der Bewertung dieser Tweets mithilfe von Machine-Learning-Methoden ergibt sich unser Index.
Das klingt erst mal ganz einfach. Aber wie treffsicher kann ein Inflationsindex sein, der auf einer so chaotischen und polemischen Plattform wie Twitter basiert?
Tatsächlich korreliert der Index im Auswertungszeitraum stark mit den realisierten Inflationsraten und Inflationserwartungen von Haushalten, die beispielsweise aus Umfragedaten der Bundesbank stammen. Er ist aber nur so genau, weil wir die Datenquelle zuvor gesäubert haben. Um sie zum Beispiel von Bot-Aktivitäten und anderen Störsignalen zu bereinigen, die das Ergebnis verfälschen könnten, nutzt der Index die Möglichkeiten des maschinellen Lernens.
Wie funktioniert das?
Wir haben den Textkorpus in verschiedene Themen unterteilt und jene Tweets herausgefiltert, die Inflationsthemen aufgreifen. Diese Tweets werden von einem vortrainierten Sprachmodell als „steigend“, „fallend“ oder „neutral“ klassifiziert. Um genügend Trainings-Daten für diesen Feinabstimmungsprozess zu generieren, nutzt der Index auch die ChatGPT-API von OpenAI. Mit unserem trainierten Modell werden dann für jeden Tag alle als steigend oder fallend klassifizierten Tweets zu einem täglichen Inflationsindex aggregiert. Zusätzlich zu einem deutschen Inflationserwartungsindex kann das Modell auch regionale Indizes abbilden.
Gewichten Sie die Tweets nach Relevanz? Ein Wirtschaftsprofessor weiß im Zweifelsfall mehr über Inflation als ein Tennislehrer…
Nein, bisher gewichten wir das nicht. Ich denke auch nicht, dass das wissenschaftlich sinnvoll wäre. Es geht um die allgemeine Inflationserwartung der Bevölkerung und da ist jede Einschätzung erst mal valide. Die Erwartung hängt nämlich direkt mit der tatsächlichen Inflation zusammen. Es geht wirklich um die Erwartung jedes Einzelnen, weil dies auch die Konsumentscheidungen jedes Einzelnen betrifft. Natürlich gibt es Experten, die durch ihren Status das Meinungsbild ein wenig prägen könnten. Aber ich würde auch sagen, dass es Gruppen gibt, die vielleicht gar nicht unbedingt von diesen Experten erreicht werden, und die vielleicht sogar Leuten folgen, die auf solche Experten oder die Regierung schimpfen.
Erkennen Sie, dass Ihr Index auf aktuelle Geschehnisse reagiert? Wie zum Beispiel Zinsentscheidungen der Notenbanken.
Der Index bietet einen zusätzlichen Erklärungswert und eine verbesserte Prognosegenauigkeit im Vergleich zu bestehenden Messmethoden quantitativer Inflationserwartungen. Der große Vorteil eines solchen Indizes besteht jedoch in der täglichen Verfügbarkeit – im Unterschied zu Umfragedaten, die nur einmal im Monat erscheinen. Unter können wir zeigen, dass der Index innerhalb weniger Tage auf geldpolitische Maßnahmen reagiert; er steigt beispielsweise bei Lockerungen und fällt nach unerwarteten Straffungen. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt zu sehen bei Tweets privater Nutzer in der aktuellen Phase erhöhter Inflation. Insgesamt ist der neue Index ein wertvolles Instrument für Marktakteure und politische Entscheidungsträger, um die vorherrschende Inflationserwartung zeitnah erkennen zu können.
Sollten sich Modelle wie Ihr Index bewähren, ermöglicht eine derartige Technologie nicht auch Missbrauch?
Es ist richtig, dass Big-Data-Modelle theoretisch auch in einer Art und Weise genutzt werden könnten, die moralische Fragen aufwerfen können. Aber es gibt definitiv eine breite Palette von Themen, bei denen solche Daten nützlich sind – positiv wie negativ. Nehmen wir zum Beispiel die Bankenkrise in den USA. In diesem Fall wurde deutlich, wie schnell Informationen verbreitet wurden und wie gut vernetzte Investoren ihr Geld sehr rasch abziehen konnten. Twitter-Daten könnten in einer Situation helfen, derartige Entwicklungen später zu erkennen.
Was ließe sich noch voraussagen?
Man könnte Twitter-Daten im Prinzip im Hinblick auf schnell jedes erdenkliche Thema analysieren, um herauszufinden, ob die Menschen über bestimmte Themen sprechen, in welchem Ton sie sterben und ob sie möglicherweise besorgt sind. Man könnte ähnliche Analysen auch auf anderen sozialen Medien durchführen, um Trends möglicherweise zu erkennen und möglicherweise negative Auswirkungen abzumildern. Aber natürlich müssen wir Privatsphäre und Datenschutz achten. Daten sollten nur aggregiert und anonymisiert genutzt werden. Man sollte sich zum Beispiel nicht auf einzelne Nutzer konzentrieren.
Mit Nora Lamersdorf sprach Leon Berent
Dieses Interview erschien zuerst bei Capital.de