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Reportage
Javier Milei löste durch die Deregulierung einen Immobilienboom aus. Gleichzeitig wächst die Zahl der Obdachlosen. Was der „anarchokapitalistische“ Kurs für den argentinischen Immobilienmarkt bedeutet.
Santiago Magnin entfernt routinemäßig das Gummiband von einem Stapel Banknoten. Dann wirft er es in die kleine Geldzählmaschine, die in jedem Büro seiner Immobilienagentur zur Einrichtung gehört, und nickt glücklich. Im Kühlschrank wartet eine Flasche Champagner. „Jeder, der eine Wohnung verkauft, bekommt ein bisschen Sekt, und dafür haben wir hier einen Kühlschrank“, sagt er.
Die sechste Etage bietet Blick auf das schicke Viertel Palermo in Buenos Aires und ist eine erstklassige Lage. Und Santiagos Agentur hat gerade fünf Wohnungen vermittelt. In Argentinien werden solche Geschäfte traditionell nicht in der stark verfallenden Landeswährung Peso, sondern unter Umgehung des Bankensystems im stabileren US-Dollar abgeschlossen. „Das erlebt man nirgendwo sonst auf der Welt, aber hier in Argentinien wird alles in bar und in US-Dollar bezahlt.“ Sogar Wohnungen.
Wohnungsmarkt im Aufschwung
Es ist nur eines von vielen verrückten Dingen, die sich in der argentinischen Krisenwirtschaft nach Jahren dreistelliger Inflationsraten und Währungsverfall etabliert haben. Neu sei allerdings, dass die Wohnungswirtschaft – nach Jahren der Flaute – wieder boome, sagt der Immobilienmakler. Das ist Präsident Javier Milei zu verdanken – und seiner Deregulierung des Immobilienmarktes. „Seit er das Mietgesetz aufgehoben hat, ist das Angebot wieder gestiegen“, sagte der Immobilienmakler.
Das Problem mit dem Gesetz bestand darin, dass man keine Preise festlegen konnte und es Mindestlaufzeiten für Verträge gab. „Da viele Eigentümer in Argentinien nicht auf Mieten angewiesen sind und Immobilien eher als Kapitalanlage behalten, haben sie sich entschieden, überhaupt nicht zu vermieten“, sagt Santiago Magnin: „Da sie jetzt wieder ihre eigenen Konditionen festlegen und auch in den USA Mieten verlangen.“ Dollar „Es gibt wieder mehr Wohnungen auf dem Markt. Dadurch sind die Mieten real gesunken.“
Weniger Geld vom Staat
Größeres Angebot, niedrigere Preise: Das sagen zumindest die Zahlen der landesweit größten Immobilienagentur Zonaprop. Dies schien zu beweisen, was der libertäre Ökonom Milei immer predigte: Je weniger Regierung, desto besser. Das Knochenmark reguliert sich am besten.
Seit seinem Amtsantritt hat Milei Behörden und Ministerien geschlossen, Subventionen und kostenlose Medikamente für Senioren gestrichen und öffentliche Bauaufträge auf Eis gelegt. Die Schocktherapie mit der Kettensäge schien zu wirken: Zum ersten Mal seit Jahren gab es einen Haushaltsüberschuss, die Inflation sank auf rund drei Prozent – pro Monat, aber immer noch eine Sensation für Argentinien.
Die Armut hat deutlich zugenommen
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit: Die andere Realität zeigt sich unter Brücken, auf Pappkartons, in kleinen Plastikzelten auf den Gehwegen. Die Zahl der Obdachlosen sei brutal gestiegen, sagt Horacio Avila, der einst selbst auf der Straße lebte. Heute leitet er eine Genossenschaft, die Obdachlosen bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben hilft.
„Die Wahrheit ist, dass die Inflation vorher schrecklich war, aber seit dem Amtsantritt dieser Regierung ist die Armut explodiert. Ich habe noch nie so viele Menschen auf der Straße gesehen und im Müll wühlend“, sagt Avila. Ganze Familien sind darunter, alleinstehende Frauen mit Kindern, alte Menschen. „Es gibt keine Arbeitsplätze mehr, weil die Fabriken und Kleinbetriebe schließen, und wir bekommen keine Unterstützung mehr. Es ist schlimmer als in der Krise nach dem Wirtschaftscrash 2001, weil der Staat völlig fehlt.“
Es ist die Kehrseite der Schocktherapie: Die Wirtschaft ist um mehr als drei Prozent eingebrochen und die Armut hat um zwölf Prozent zugenommen. Mehr als jeder zweite Argentinier ist betroffen, vor allem Kinder und Rentner.
Proteste gegen Sparmaßnahmen
Dagegen formiert sich Widerstand: An der Straßenecke gegenüber dem imposanten Nationalkongress von Buenos Aires erheben sich Aufrufe zum Protest gegen Mileis Sparpolitik. Bei den Demonstranten handelt es sich überwiegend um Rentner. Der Gegenwert ihrer monatlichen Rente beträgt rund 300 Euro.
„Das ist ein kriminelles Sparprogramm, das diese Regierung auf dem Rücken der einfachen Leute, Rentner und Arbeiter durchführt“, sagt Mario Paraveccino. Er verbrachte 43 seiner 70 Jahre damit, für die Stadtregierung von Buenos Aires zu arbeiten. „Wir bekommen 300.000 Pesos Rente, davon kann niemand leben, wir müssen entscheiden, ob wir essen oder unsere Medikamente kaufen.“
„In was für einer Welt leben meine Kinder und Enkel?“
Auch Liliana Pazos ist Teil der Gruppe. Sie ist 69 Jahre alt, die ehemalige Lehrerin kümmert sich nun um HIV-Patienten, um finanziell bis zum Monatsende zu überleben. Oder Lokführer Felipe Carline, den die Polizei beim letzten Protest mit Tränengas und Fußtritten zu Boden brachte. „Wir protestieren hier auch für unsere Kinder“, sagt Mario. „Ich habe eine Tochter, die prekär beschäftigt ist. Ohne Vertrag, ohne Urlaubsanspruch, ohne Sozialversicherung. Sie musste wieder bei mir einziehen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten kann.“
Als Vater fragt man sich dann: „In was für einer Welt leben meine Kinder und Enkel? Die Wahrheit ist, dass wir nicht einmal mehr das Recht haben, friedlich zu sterben.“
Laut offizieller Statistik sind die Mietpreise gestiegen
Auch zum Wohnungsmarkt gibt es weitere Zahlen. Der Mieterschutzbund, der sich auf offizielle Zahlen der Statistikbehörde beruft, sagt: Die Mietpreise seien im Vergleich zur Inflation nicht gesunken, sondern gestiegen. Andererseits ist die Zahl der Eigentümer und Mieter zurückgegangen; Heute leben immer mehr Menschen in prekären Verhältnissen. Und das bedeutet oft: in Armenvierteln oder besetzten Häusern.
Der Markt sei sehr konzentriert, sagt der Immobilienmakler Santiago Magnin aus Palermo. Und es gibt eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die sich formelles Wohnen leisten können. Gerade ist jede Menge Dollar-Bargeld ins Land gekommen, das die Argentinier zuvor im Ausland gelagert hatten – und für das Milei nun eine Steueramnestie erlassen hat.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob Mileis Experiment langfristig ein Erfolg sein und letztendlich einer breiten Bevölkerungsschicht zugute kommen wird. „Ich hoffe, dass das Experiment dieses Mal funktioniert. Die Geschichte Argentiniens lehrt uns, dass wir ständig auf und ab schwanken und von der Ekstase zurück in die Qual fallen“, sagt Magnin. „Wenn ich mit Investoren spreche, sind viele neugierig, aber die wenigsten investieren. Alle warten ab, ob es diesmal eine Ausnahme von der Regel gibt.“
Anne Herrberg, SWR, tagesschau, 09.12.2024 14:25 Uhr