
QR-Code statt Telefonnummer
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Wie Senioren in Berlin mit der Digitalisierung kämpfen
Mo 02.12.24 | 08:37 Uhr | Aus

Bankfilialen schließen, Arzttermine sind oft nur noch über die App möglich. Für viele Senioren wird der Alltag in Berlin immer komplizierter. Wie unabhängig können ältere Menschen ohne Internet leben? Von Roberto Jurkschat
Am 30. Oktober klingelte das Festnetztelefon von Helga Krüger sehr häufig: Freunde dachten an sie, Verwandte gratulierten ihr. Zu ihrem 85. Geburtstag erhielt Helga Krüger jedoch per Post Glückwünsche. Eine vom Spandauer Bezirksbürgermeister Frank Bewig von der CDU unterzeichnete Karte. „Zumindest ist es eine schöne Glückwunschkarte“, erinnert sich der Berliner.
Dem Brief lag auch eine Broschüre bei: Anlaufstellen für ältere Menschen, die Hilfe im Alltag brauchen – etwa Hilfe bei Behördengängen oder bei Pflege- und Wohnangelegenheiten. Solche Beratungsstellen musste Helga Krüger bisher noch nicht aufsuchen und Anrufe waren auch nicht nötig. Das liegt vor allem daran, dass sie für solche Fälle eine andere Telefonnummer hat. „Mein Sohn hilft mir bei solchen Dingen.“
15 Prozent der älteren Menschen in Berlin sind offline
Während viele jüngere Menschen problemlos Online-Überweisungen tätigen, Arzttermine über die App vereinbaren und Bahntickets über die Bahn-Website kaufen, fühlt sich Helga Krüger oft von der Technik im Stich gelassen. Statistisch gesehen gehört sie zu einem relativ großen Teil der älteren Menschen, die offline sind. Zahlen des Statistischen Bundesamtes (destatis.de) zeigen, dass der Anteil der „Offliner“ mit zunehmendem Alter steigt – in der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen sind es bereits 15 Prozent. Dies ist möglicherweise nur der höchste Wert in der Statistik, da keine Daten zur Gruppe der über 75-Jährigen erhoben wurden.
Aus Sicht von Helga Krüger ist die Digitalisierung schon lange im Alltag anderer Menschen angekommen – während sie sich auf das Telefon der Empfangsdame ihres Hausarztes, auf den Bankschalter und auf die Briefmarken der Post verlassen konnte.
Bankfilialen verschwinden
Doch seit Jahren schrumpfen die analogen Angebote, Fahrkartenschalter werden abgeschafft, Bankfilialen schließen und Telefonnummern, die Anrufern den direkten Weg zur persönlichen Beratung ermöglichen, werden durch KI-Chatbots und aufgezeichnete Ansagen ersetzt.
Die beiden Geldautomaten, an denen Helga Krüger in Spandau immer Bargeld abgehoben hat, sind verschwunden. Eines davon wurde dreimal gesprengt und von der Postbank demontiert. Absehbar ist auch, dass die Postbank-Filiale, an die sich die Seniorin derzeit wenden kann, wenn sie Geld überweisen muss, verschwinden wird. Die Postbank hatte im Juli angekündigt, rund die Hälfte ihrer Filialen in Berlin zu schließen. Gegenüber dem rbb bestätigte das Unternehmen, die Marke mittelfristig zu einer „Mobile-First“-Bank weiterentwickeln zu wollen. Um an Bargeld zu kommen, ruft Helga Krüger jetzt immer ihren Sohn an, damit er ihr bei nächster Gelegenheit etwas mitbringen kann.
Ähnlich kompliziert gestaltet sich für Krüger der Austausch des Stromzählers in ihrer Gartenlaube. „Das Stromnetz wollte am kommenden Donnerstag den Zähler austauschen“, sagt Krüger. Am Donnerstag steht jedoch bereits ein Arzttermin in ihrem Kalender. Sie muss einen neuen Termin vereinbaren – aber wie? Aus dem Brief geht für sie nicht hervor, welche Telefonnummer sie anrufen soll oder ob es überhaupt eine gibt. Der Brief bezieht sich auf einen QR-Code zur Online-Terminbuchung. „Ich wusste gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Mein Sohn kam dann zu mir und schrieb eine E-Mail. Für ältere Menschen war alles sehr kompliziert.“
Senior Network möchte die digitale Kluft überbrücken
Ihr Sohn Gunnar Krüger erklärt, er habe gemerkt, dass die Angebote für ältere Menschen in vielen Bereichen zurückgefahren wurden. „Ich finde es schade, dass Rentner von vielen Institutionen und Unternehmen ignoriert werden. Wahrscheinlich in der Annahme, dass sie schon irgendwie klarkommen“, sagt er. „Ältere Menschen werden selten gefragt, was sie wollen.“
Seniorenfreundliche Apps, persönliche Adressen für ältere Menschen, leicht verständliche digitale Geräte – Dinge, von denen Gunnar Krüger glaubt, dass sie helfen würden. „Mein Eindruck ist, dass sich in dieser Richtung kaum etwas tut.“
Wenn es dagegen Hilfsangebote gibt, merkt er, dass diese bei seiner Mutter sofort einen kleinen Euphorieschub auslösen – Freude über die Kontrolle und Unabhängigkeit, die sie in solchen Momenten bewahren kann. In manchen Bereichen nimmt die Beteiligung älterer Menschen jedoch mit fortschreitender Digitalisierung ab. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Vergabe von Arztterminen, die in manchen Praxen offenbar nur über die „Doctolib“-App möglich ist. „Eine Freundin kann ihren Hausarzt nicht mehr anrufen. Sie muss immer in die Praxis, um einen Termin zu vereinbaren“, sagt Helga Krüger.
Smartphones nur zum Telefonieren
Um älteren Menschen Brücken in die digitale Welt zu schlagen, hat das Berliner Seniorennetzwerk der AWO ein digitales und analoges Angebot aufgebaut. Das Projekt bietet eine Online-Plattform, die vielfältige Freizeit-, Kultur- und Bildungsangebote speziell für Senioren bündelt und in verständlicher Sprache bereitstellt.
Darüber hinaus gibt es sogenannte „Infoboxen“, die in sechs Bibliotheken in verschiedenen Berliner Bezirken eingerichtet wurden, um Menschen ohne eigene Geräte oder digitale Vorkenntnisse dabei zu helfen, Angebote im Seniorennetzwerk zu finden und ihnen auch ein analoges Exemplar mit nach Hause zu geben in Form eines Ausdrucks dabei. Darüber hinaus können Interessierte des Seniorennetzwerks in acht AWO-Digitalcafés an Tablet-Workshops teilnehmen, bei denen jeweils zwei Jugendliche erklären, wie digitale Geräte und das Internet funktionieren. Eine vorherige Terminvereinbarung ist nicht erforderlich.
Seniorennetzwerk-Managerin Melanie Thoma betonte im Interview mit rbb|24, dass die Gruppe der älteren Menschen sehr vielfältig sei und nicht jeder, der Schwierigkeiten mit der Nutzung des Internets habe, ein „Offliner“ sei. Laut Thoma suchen viele ältere Menschen mit Smartphones und Tablets Hilfe, kurz nachdem sie die Geräte von ihren Kindern geschenkt bekommen haben. „Manche nutzen die Geräte nur zum Telefonieren, uns ist es aber wichtig zu vermitteln, dass digitale Technologien auch Spaß machen können, wenn man zum Beispiel Fotos verschicken oder Videoanrufe nutzen kann.“
Während der Pilotphase sei das Projekt auf durchweg positive Resonanz gestoßen – bei den Interessenten handele es sich allerdings überwiegend um ältere Frauen mit akademischem Hintergrund, sagt Thoma. Jetzt gilt es, noch breitere Gruppen zu erreichen.
„Ich wäre auch heute noch im Niemandsland“
Einer der ersten Interessenten kam vor drei Jahren durch Zufall zum Seniorennetzwerk. Nach dem Tod ihres Mannes engagierte sich Jutta Grabe ehrenamtlich im Bezirksamt Mitte. „Hallo, hier bin ich, ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll und würde gerne eine Aufgabe übernehmen“, sagte sie. Anschließend half sie in einer Seniorenwohngruppe in Berlin-Wedding aus, wo die 80-Jährige das Seniorennetzwerk kennenlernte. „Ohne die Begegnung wäre ich heute noch im Niemandsland. Manchmal braucht man einen kleinen Kick. Einen Anstoß, um sich zu zwingen, sich auf eine neue Technologie einzulassen.“
Manchmal fehlt nicht nur der Anstoß, sondern auch der Anstoß und das nötige Geld. „Man muss etwas übrig haben, um ein Smartphone zu kaufen“, sagt Grabe. „Die Kosten haben mich lange davon abgehalten, mich mit digitalen Angeboten auseinanderzusetzen.“ Wie die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage erklärte, sind rund 20 Prozent der Rentner in Deutschland von Altersarmut betroffen. Vor vier Jahren forderte eine Expertenkommission in einem Bericht des Bundesfamilienministeriums (bmfsfj.de) Maßnahmen, um allen älteren Menschen Zugang zu technischen Geräten und digitaler Teilhabe zu ermöglichen.
Jutta Grabe und Melanie Thoma vom Seniorennetzwerk haben aber auch Verständnis für ältere Menschen, die sich nicht mehr auf den Lernprozess einlassen wollen oder können. Sie fordern, dass analoge Angebote, Ansprechpartner an festen Standorten, Telefondienste mit echten Menschen statt aufgezeichneter Ansagen oder der Fahrkartenschalter außerhalb des Zuges bleiben. „Solange diese ältere Generation noch lebt, sollten wir immer einen zweigleisigen Ansatz verfolgen“, sagt Jutta Grabe.
„Ich hätte Angst, dass ich es nicht verstehe“
Ähnlich sieht es auch Helga Krüger, die mit 85 Jahren noch nicht viel digitale Ausbildung vorhat, wie sie zugibt: „Ich hätte Angst, dass ich es nicht verstehe. Und dann würde ich mich einfach über mich selbst ärgern.“ „
Die Broschüre mit den Hilfsangeboten für Senioren in Spandau hat sie noch nicht genutzt – aber behalten. „Vielleicht schaue ich da mal rein“, sagt sie. Hätte sie eine Antwort auf die Grußkarte an den Spandauer Oberbürgermeister Frank Bewig geschrieben, dann hätte sie sich zunächst bei ihm bedankt, sagt Krüger. Sie hätte sich aber auch gewünscht, dass sich der Bezirk neben Hilfeangeboten, Gesprächen und der Aufrechterhaltung analoger Strukturen, auf die ältere Menschen angewiesen sind, stärker auf die Belange älterer Menschen konzentriert. Schließlich gibt es Senioren, die ihre Angehörigen nicht um Hilfe bitten können.
(Hinweis: Das Silbernetz-Informationstelefon bietet auch Hilfe und Beratung für Senioren unter der kostenlosen Rufnummer 030 / 544 533 0 533)