In einem sind sich die großen Parteien einig: Angriffe auf Wahlkämpfer sind für sie inakzeptabel. Und doch nehmen die Angriffe seit Jahren zu. Von 2019 bis 2023 haben sie sich Regierungsangaben zufolge von 1.420 auf 2.790 fast verdoppelt. Kurz vor der Europawahl Anfang Juni häufen sich die Fälle weiter: Der sächsische SPD-Spitzenkandidat Matthias Ecke soll am vergangenen Freitagabend beim Plakataufhängen von vier Jugendlichen zusammengeschlagen worden sein. Grüne in Dresden wurden am Dienstagabend beim Aufhängen von Plakaten von mutmaßlichen Rechtsextremisten angegriffen – und ein vermutlich älterer Mann griff in einer Bibliothek in Rudow die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) an.
Für die Parteien sind solche Angriffe nichts Neues, doch aus ihrer Sicht hat sich etwas verändert. „Die Qualität der Angriffe nimmt zu und es handelt sich nicht mehr um Einzelfälle“, sagt eine Sprecherin der Bundes-SPD. Ehrenamtliche Kampagnenmanager sagen nun, dass „kein einziges Plakatteam eine Zwei-Stunden-Schicht ohne Beleidigungen oder Angriffe übersteht“.
Grüne werden am häufigsten angegriffen
Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion vom Januar zeigt, dass insbesondere die Grünen zunehmend zum Ziel von Angriffen werden. Berücksichtigt man alle Deliktarten, wurden im Jahr 2019 174 Angriffe auf ihre Vertreter registriert, im vergangenen Jahr waren es bereits 1.219. Allein im Zeitraum von 2022 bis 2023 hat sich die Zahl der Angriffe mehr als verdoppelt. Am zweithäufigsten werden Politiker der AfD angegriffen, im vergangenen Jahr waren sie jedoch am häufigsten von Gewaltverbrechen betroffen. Politiker der Grünen wurden am häufigsten Opfer sogenannter Rededelikte, etwa Beleidigungen.
Die Parteien veranstalten seit Jahren Workshops zum Umgang ihrer Wahlkämpfer und Kommunalpolitiker mit Hass oder Mobbing, online und auf der Straße. Mehrere Parteien haben Telefonnummern für Mitglieder eingerichtet, die von einem Angriff betroffen sind. Die gemeldeten Angriffe werden registriert und gemeldet. Aber das reicht offenbar nicht aus. „Angesichts der aktuellen Entwicklungen werden wir mit den Geschäftsbereichen eine Mindestteilnehmerzahl für Aktionen wie Plakate und Informationsstände besprechen“, sagt eine SPD-Sprecherin. Zudem wollen die Sicherheitsbehörden vor öffentlichen Veranstaltungen oder Auftritten umfassender als bisher informiert werden.
Auch die FDP beobachtet zunehmende Gewalt gegen ihre Wahlkämpfer. „Vor allem Beleidigungen haben zugenommen, aber auch Vandalismus von Wahlplakaten“, sagt ein Sprecher der Bundespartei. Mitgliedern und Wahlkämpfern sei geraten, „nicht im Alleingang zu handeln“.
Für die Grünen sind die jüngsten Angriffe keine Überraschung. Es heißt, dass sie seit langem auch Workshops und Ratgeber für Wahlkämpfer anbieten. Wie aus Parteikreisen zu hören ist, wird bei der Europawahl zunehmend der Wahlkampf von Tür zu Tür eingesetzt – auch weil er nachweislich die Wahlbeteiligung erhöht. Nach dem Angriff auf den Sozialdemokraten Matthias Ecke hatten die Grünen in Sachsen bereits angekündigt, ihre Wahlkämpfer nicht mehr allein auf die Straße zu schicken. Ganz spurlos gehen die Angriffe nicht an den Wahlkämpfern vor, auch wenn diese noch immer „hochmotiviert“ seien, wie es hieß. Aber einige sind verunsichert.
Die Linke empfiehlt, dass ihre Wahlkämpfe die Aktionen nicht alleine organisieren. Insgesamt nimmt die Sensibilisierung der Beteiligten derzeit zu. Ähnlich wie die SPD haben sie auch im Bundesamt eine Kontaktadresse eingerichtet, um Störungen oder Bedrohungen zu melden.
FDP fordert Reform des Bundesmeldegesetzes
Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, forderte in einem Positionspapier einen besseren Schutz für Kommunalpolitiker. Da Wohngebäude immer häufiger angegriffen werden, muss es der Politik erleichtert werden, die Auskunft über ihre Meldedaten zu sperren. Darüber hinaus muss der staatliche Schutz auf lokaler Ebene verbessert werden.
Der Leiter des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, wies am Mittwoch darauf hin, dass nicht jeder Wahlkämpfer geschützt werden könne. Dieser „Illusion“ dürfe man nicht nachgeben, sagte er am Mittwoch in Bremen.