Das Frachtschiff „Ruby“ liegt seit Wochen vor der englischen Küste vor Anker, voll beladen mit explosivem Ammoniumnitrat. Der Fall wirft eine Reihe von Rätseln auf – und es gibt viele Spekulationen über die Rolle Russlands darin.
Der maltesische Frachter „Ruby“ ist seit Ende August mit explosiver Ladung durch europäische Gewässer unterwegs. Vor drei Wochen ankerte das beschädigte Schiff vor der Themsemündung. Es gibt Spekulationen über mysteriöse Hintergründe, die Teil der hybriden Kriegsführung Russlands sind. Was sind die Fakten und wie sind sie einzuordnen?
Die „Ruby“ verließ Kandalskzha im Süden der Kola-Halbinsel am 22. August. Kola liegt östlich von Skandinavien und gehört zu Russland. Unmittelbar nach dem Auslaufen geriet das Schiff in eine Untiefe. Offenbar kam die „Ruby“ aus eigener Kraft wieder frei. Sie setzte die Reise um Skandinavien zunächst nach Tromsö an der norwegischen Nordwestküste fort.
Gefährliche Ladung?
20.000 Tonnen Ammoniumnitrat werden verladen. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil von Düngemitteln. Ammoniumnitrat war auch die Chemikalie, die vor vier Jahren im Hafen von Beirut explodierte. Mehr als 200 Menschen starben und Teile der Stadt und des Hafens sind noch heute zerstört.
Diese Sprengkraft führte zu Spekulationen über die Gefährlichkeit der „Ruby“. Tatsächlich erfordert die Reaktion von Ammoniumnitrat besondere Umstände und große Hitze. Wenn einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, kann Ammoniumnitrat gemäß den internationalen Sicherheitsvorschriften in der Regel problemlos mit Seeschiffen transportiert werden. Die norwegische Schifffahrtsbehörde (NMA) bestätigt, dass von der Ladung der Ruby keine besondere Gefahr ausgeht.
Nach Angaben der staatlichen „Deutschen Handels- und Investitionsagentur“ darf Russland Ammoniumnitrat in Drittländer exportieren. Schiffe haben in europäischen Gewässern freie Durchfahrt. Wirtschaftssanktionen sehen jedoch vor, dass russisches Ammoniumnitrat nicht in die EU importiert werden darf. Daher ist der ursprünglich genannte Bestimmungsort der „Ruby“ seltsam. Sie wollte auf die Kanarischen Inseln, die zu Spanien und damit zur EU gehören. Dort hätte die Ladung nicht entladen werden dürfen.
Kontrolle in Norwegen
Ungewöhnlich ist auch das Verhalten der Schiffsführung. Nach dem Unfall steuerte sie den nahegelegenen Abfahrtshafen nicht an. Nach einer einwöchigen Fahrt durch oft turbulente See erklärte die Schiffsführung das Schiff vor Norwegen für manövrierunfähig.
Die norwegische Schifffahrtsbehörde und der renommierte Schiffs-TÜV DNV untersuchten das Schiff eine Woche lang. „Es gab Schäden am Ruder, am Propeller und einige Risse im Rumpf“, sagte NMA-Sprecher Dag Inge Aarhus. „Nach unserem Kenntnisstand hat der Schaden keine Auswirkungen auf die Ladung.“ Alle Sicherheitsnachweise waren vorhanden, lediglich ein arbeitsrechtlicher Nachweis für das Personal fehlte. Nachdem die Sicherheitsexperten von DNV festgestellt hatten, dass die „Ruby“ zur Reparatur in eine Werft gehen könnte, gaben die norwegischen Behörden die Weiterfahrt des Schiffes frei. Zur Sicherheit wurde ein Schlepper zur Begleitung bestellt.
Seltsamer Schaden
Bei der Inspektion wurden auch der Maschinenraum, die Steuerungen und das Notkontrollsystem untersucht. Es gab keine Mängel. Dennoch meldete der Kapitän der „Ruby“ laut Presseberichten bald, dass die Maschine völlig ausgefallen sei. Es dauerte nicht lange. Das Schiff begab sich auf eine Irrfahrt zunächst in Richtung Ostsee, dann in Richtung Malta im Mittelmeer. Der „Ruby“ ist dort offiziell registriert. Doch Malta verbot eine vorzeitige Einreise.
Ende September ankerte die „Ruby“ in der Nordsee nahe der Themsemündung. Nach Angaben der britischen See- und Küstenwache brachte ein Versorgungsschiff neuen Treibstoff. Der Fachdienst „Seatrade Maritime News“ berichtet, dass auch frische Lebensmittel an Bord kamen.
Die „Ruby“ liegt seit fast einem Monat vor der Themsemündung vor Anker.
Nach offiziellen Ermittlungen in Norwegen scheint der Schaden am Schiff nicht schwerwiegend zu sein. „Solange die Ruby geladen ist, ist eine Reparatur nicht möglich“, sagt Bremens Kapitän Kai Ebert. Ebert fuhr jahrzehntelang zur See, machte an der Universität eine Ausbildung zum Nautiker und hat als Lotse täglich mit Schiffen aller Art zu tun. „Erstens ist ein voll beladenes Schiff zu schwer, um im Dock trockengelegt zu werden“, sagt Ebert. „Zweitens kann man mit geladenem Ammoniumnitrat nicht schweißen.“
Daher muss die Ladung geräumt werden, bevor Reparaturen durchgeführt werden können. Es laufen Verhandlungen mit den englischen Behörden, gab Roger Gale, ein Abgeordneter des britischen Unterhauses von der Südostküste Englands, kürzlich über den Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) bekannt. Er bezog sich auf ein Gespräch mit Schifffahrtsminister Mike Kane.
Auffallend ist die Gelassenheit, mit der die norwegischen und britischen Behörden sowie das Cuxhavener „Maritime Security Center“ reagieren. Alle betonen, dass „Ruby“ überwacht wird, aber es gibt keinen Grund einzugreifen oder sich Sorgen zu machen. Sollte tatsächlich eine Katastrophe drohen, müsste der nächstgelegene Küstenstaat reagieren. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) schreibt vor, dass hilfsbedürftigen Schiffen Zugang zu Nothäfen gewährt werden muss.
Russland im Hintergrund?
Die „Ruby“ ist ein kleineres Frachtschiff mit einer Länge von 183 Metern und einer Breite von 28 Metern. Es wurde vor zwölf Jahren in Betrieb genommen und ist daher recht neu. Fotos zeigen ein gepflegt aussehendes Schiff. Es gehört zur „Serenity Ship Management“ und ist an die vor zwei Jahren gegründete „Solar Gulf Shipping“ gechartert. Beide Unternehmen haben ihren Sitz im selben Geschäftsgebäude in Dubai. Die „Serenity Ship Management“ ist nicht im Handelsregister der Vereinigten Arabischen Emirate oder Maltas eingetragen, wo die „Ruby“ registriert ist. Das Unternehmen reagierte nicht auf Anfragen.
Die gesamten Umstände und Vorgänge lassen Zweifel aufkommen, ob die „Ruby“ jemals Ammoniumnitrat exportieren wollte und ob sie ernsthaft beschädigt wurde. In den Medien wird spekuliert, dass Russland mit einem angeblich gefährlichen Schiff die Reaktion westlicher Staaten und der Öffentlichkeit testen will. Auch die Möglichkeit der Spionage auf kritischer Infrastruktur bei angeblich unfallbedingten Zwischenstopps und langsamen Transfers wird diskutiert.