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Wie Asylsuchende nach Europa kommen

Wie Asylsuchende nach Europa kommen

In Deutschland ist die Zahl der Asylerstanträge in den ersten acht Monaten dieses Jahres zwar um rund ein Fünftel gesunken, liegt aber weiterhin auf einem historisch hohen Niveau. Dass weniger Asylsuchende nach Deutschland kommen, dürfte auch an den veränderten Bedingungen auf den Migrationsrouten nach Europa liegen. Allerdings sind nicht alle im Umlauf befindlichen Zahlen wirklich aussagekräftig.

Im vergangenen Jahr war Tunesien das wichtigste Tor nach Europa. Aus der Gegend um die Hafenstadt Sfax machten sich die meisten afrikanischen Migranten auf den Weg nach Italien. Doch nun greift Tunesien unter dem autoritären Präsidenten Kaïs Saïed hart durch: Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Ankünfte in Italien mehr als halbiert – insgesamt um mehr als 64 Prozent, aus Sfax sogar um 77 Prozent. Im vergangenen Jahr registrierte Italien fast 160.000 Ankünfte von Migranten.

Die zentrale Mittelmeerroute wird deutlich seltener genutzt

Tunesien ist nicht nur ein Transitland. 4.200 Tunesier landeten 2023 in Italien. Sicherheitskräfte stoppten dieses Jahr gut 30.000 Migranten, bevor sie in Italien ankommen konnten. Immer mehr Westafrikaner kehren freiwillig aus dem kleinen nordafrikanischen Land, in dem sich noch immer rund 23.000 Migranten aufhalten, in ihre Heimat zurück. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) unterstützt eigenen Angaben zufolge dreimal so viele Menschen wie im gleichen Zeitraum 2023 mit kostenlosen Flügen und Starthilfen in ihren Heimatländern.

Der Druck auf die Migranten hat zugenommen, so dass viele von ihnen buchstäblich geflohen sind, seit tunesische Sicherheitskräfte begonnen haben, sie in Wüstengebieten an der libyschen Grenze auszusetzen. Menschenrechtsaktivisten berichten, dass Dutzende von ihnen dort verdursten. Auf der libyschen Seite wurde in diesem Jahr ein Massengrab mit den Leichen von 65 Migranten entdeckt.

Auch Tunesiens Präsident Saïed schürt Stimmung gegen Migranten. Er spricht von einem „kriminellen Plan“. Dessen Ziel sei es, die „demografische Zusammensetzung Tunesiens“ zu verändern und die arabisch-muslimische Bevölkerung durch Afrikaner zu verdrängen. Zuletzt wurden zudem führende Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen festgenommen, die Migranten helfen. Aus Europa kommt immer weniger Kritik, denn Tunesien ist für die EU ein Musterstaat: Auf Betreiben der italienischen Rechtsregierung wurde im vergangenen Jahr ein mehr als 100 Millionen Euro schwerer Migrationspakt mit dem Land geschlossen. Er gilt als Vorbild für die nachfolgenden Abkommen mit Ägypten und Mauretanien.

Auch aus dem benachbarten Libyen kamen zuletzt weniger Migranten nach Italien – mittlerweile sind es aber ähnlich viele wie aus Tunesien. Jahrelang machten sich die meisten Migranten von Libyen aus auf den Weg nach Italien. Auch die EU hat dort verhandelt und viel Geld überwiesen, um den Zustrom zu stoppen. Im Juli lud die Übergangsregierung in Tripolis zum „Transmediterranen Migrationsforum“ ein, um den Kampf gegen illegale Migration besser zu koordinieren. Doch auch der Menschenschmuggel ist eine wichtige Einnahmequelle, vor allem für den ostlibyschen Warlord Chalifa Haftar und andere Milizen. Schon bald könnten wieder mehr Migranten Libyen verlassen. Die IOM zählt dort aktuell mehr als 760.000 Migranten. Ihre Zahl wächst wegen der Vertriebenen aus Tunesien und der vor dem Bürgerkrieg fliehenden Sudanesen.

Viele Migranten wählen die westafrikanische Route

Viele Migranten, die sonst die zentrale Mittelmeerroute genommen hätten, sind zuletzt auf eine andere Route ausgewichen, Richtung der spanischen Kanarischen Inseln. Frontex meldet allein in diesem Jahr einen Anstieg von 123 Prozent im Atlantik. Nach Angaben des spanischen Innenministeriums kamen dort bis Anfang September mehr als 25.500 Menschen auf über 370 Booten an.

Nach Einschätzung der spanischen Hilfsorganisation Caminando Fronteras handelt es sich um die „gefährlichste und tödlichste Route Richtung Spanien“, wie die Hilfsorganisation in ihrem jüngsten Bericht schreibt: Allein zwischen Januar und Mai starben dort mehr als 4.800 Menschen.

Die meisten Abreisen kommen aus Mauretanien. Viele Menschen aus Mali sind vor Krieg und Krise in das kleine Land mit knapp fünf Millionen Einwohnern geflohen. Mehr als 200.000 Malier halten sich dort auf, vor allem in Lagern. Erstmals stellen sie die größte Gruppe der Ankömmlinge in Spanien. Anfang des Jahres schloss die EU mit der mauretanischen Regierung eine Migrationspartnerschaft, wie schon mit Tunesien und später mit Ägypten. Wirkung zeigte sie allerdings bislang nicht.

In Spanien stieg die Zahl der irregulären Einreisen bis Ende August um mehr als 60 Prozent auf insgesamt mehr als 35.000 (in Italien ist der Rückgang ähnlich). Im Mittelmeerraum ist dagegen ein Rückgang aus Marokko und Algerien zu verzeichnen. Zuletzt gelang es allerdings einem Großaufgebot marokkanischer Sicherheitskräfte in der Exklave Ceuta nur mit Mühe, einen Zustrom von Hunderten Migranten zu stoppen.

Die Kanarischen Inseln sind mittlerweile heillos überlastet. Auf die kleine Insel El Hierro mit knapp 12.000 Einwohnern entfallen fast ein Drittel der Ankünfte. Im Jahr 2023 waren es laut spanischem Innenministerium mehr als 14.500. Auf dem Atlantik-Archipel halten sich mittlerweile 5.300 minderjährige Migranten auf, die wegen eines innenpolitischen Streits bislang nicht auf das spanische Festland gebracht werden konnten.

Woher kommen die widersprüchlichen Zahlen?

Laut Frontex war das östliche Mittelmeer in den ersten acht Monaten des Jahres die zweitwichtigste Route für unkontrollierte Einwanderung in die EU. Fast 30.000 Menschen wurden dort wegen irregulärer Grenzübertritte registriert, ein Anstieg von 39 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Diese Zahl bezieht sich auf Ankünfte aus der Türkei auf ostägäischen Inseln wie Chios, Lesbos und Kos, die bereits 2015 und 2016 im Zentrum des früheren Höhepunktes der Migrationskrise lagen. Nicht eingerechnet sind darin die wachsenden Zahlen der Ankünfte auf Kreta und der vorgelagerten Insel Gavdos, da es sich hier um Boote aus Nordafrika, insbesondere Libyen, handelt.

Allerdings steht der starke Anstieg der irregulären oder illegalen Grenzübertritte in Griechenland in frappierendem Missverhältnis zu dem gleichzeitigen Rückgang der Zahlen auf dem Westbalkan, den Frontex festgestellt hat und der sich vor allem auf der Route nach Deutschland und Österreich fortsetzt. In den Westbalkanstaaten wurden der EU-Agentur zufolge im gleichen Zeitraum 77 Prozent weniger illegale Grenzübertritte registriert. Fast 40 Prozent Wachstum auf einem Abschnitt, aber 77 Prozent Rückgang auf dem anderen Abschnitt derselben Route? Wie passt das zusammen?

Die beim Blick auf die Karte naheliegende Annahme, die Migration aus der Türkei und Griechenland müsse sich vom West- in den Ostbalkan verlagert haben, also auf die Route von Bulgarien nach Rumänien und weiter nach Ungarn, kann zumindest bulgarischen Quellen zufolge nicht stimmen. So versicherte Bulgariens damaliger Innenminister Kalin Stoyanov Mitte März während einer Fragerunde im bulgarischen Parlament, man beobachte einen stetigen Rückgang der Zahl irregulärer Grenzübertritte. Ende August behauptete Anton Slatanov, Chef der bulgarischen Grenzpolizei, nach einem Treffen mit Frontex-Direktor Hans Leijtens sogar, der „Migrationsdruck“ an der bulgarisch-türkischen Grenze sei um 70 Prozent gesunken.

Experten sehen solche Erfolge auch in den Bemühungen Bulgariens, in den grenzfreien Schengen-Raum aufgenommen zu werden. Berichte über einen effektiven Grenzschutz passen gut zu dem Bild, das Sofia vermitteln möchte.

Migrationsexperte Gerald Knaus interpretiert die widersprüchlichen offiziellen Zahlen anders. Er bezeichnet sie vor allem als Beleg für die mangelnde Verlässlichkeit solcher Daten. Er verweist darauf, dass die Zahl der Asylanträge von Syrern und Afghanen in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 200.000 vor der Corona-Pandemie auf 450.000 pro Jahr gestiegen sei. „Offiziell kann das nicht stimmen, denn angeblich sinkt die Zahl der Menschen, die nach Griechenland kommen.“ Seine Erklärung: „Offensichtlich schaffen es inzwischen Hunderttausende, die Route über Südosteuropa unregistriert zu absolvieren.“

Wäre das wahr, hieße das, die Länder Südosteuropas, von Griechenland bis Ungarn, hätten ihre alte, ohnehin nie wirklich beendete Politik des „Durchwinkens“ von Migranten intensiviert. Dazu passt laut Knaus auch die Tatsache, dass die Zahl der in der Türkei registrierten syrischen Flüchtlinge nach offiziellen türkischen Angaben zuletzt um 600.000 gesunken ist, von 3,7 auf 3,1 Millionen. Diese Zahl ist umso bemerkenswerter, weil in der Türkei jährlich rund 80.000 Kinder syrischer Flüchtlinge geboren werden. Auch wenn die sinkende Zahl der Syrer in der Türkei nicht ausschließlich auf die Migration nach Europa zurückzuführen sei, sei dennoch ein großer Teil darauf zurückzuführen, vermutet Knaus.

Unsicherheiten hinsichtlich der Verlässlichkeit offizieller Zahlen ergeben sich auch aus einem weiteren Umstand: In den vergangenen Jahren reisten in Zehntausenden Fällen Menschen, deren Flüchtlingsstatus in Griechenland bereits anerkannt worden war, dennoch nach Deutschland weiter, um dort erneut Asyl zu beantragen. Dies ist formal unzulässig, da den Betroffenen bereits in einem EU-Staat Schutz gewährt wurde. Da aufgrund deutscher Gerichtsentscheidungen aber fast niemand nach Griechenland zurückgeschickt wird, weil dort die Menschenwürde der Betroffenen nicht gewährleistet ist, können die Menschen in Deutschland ein weiteres Asylverfahren durchlaufen, obwohl Griechenland in der Statistik weiterhin als Staat aufgeführt ist, der ihnen Schutz gewährt hat.

Letztlich setzt Griechenland unter der Regierung des konservativen Premiers Kyriakos Mitsotakis eine Politik fort, die bereits sein Vorgänger Alexis Tsipras von der „Allianz der Radikalen Linken“ verfolgt hatte: Indem Athen die schlechtestmöglichen Bedingungen schafft – für Asylsuchende wie für anerkannte Flüchtlinge – hofft man, möglichst viele von ihnen in Richtung Deutschland abzuschieben.

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