„Ich möchte nicht, dass das Lied aufhört“, sagt Adrianne Lenker im rollenden Gitarrenakkord von „Anything“ – nur um mit Unterstützung des Publikums wieder von vorne zu beginnen. Schließlich ist der Dienstagabend auf Kampnagel ihre Party und sie weint, wann sie will.
„Es ist egal, wenn du den Text nicht kennst, murmel ihn einfach.“ Was nach einem bewährten Rezept für Chaos klingt, wird zu einem berührenden Gemeinschaftserlebnis mit einem sichtlich berührten Leadsänger. Das Konzert ist bis auf eine Zugabe fast zu Ende.
Knapp anderthalb Stunden zuvor saß sie mitten auf der Bühne, zwei Gitarren auf der einen Seite, ein Klavier auf der anderen. Sie spielt es nicht selbst, nach ein paar Liedern gesellt sich ihr Freund Nick Hakim hinzu, der auch das Rahmenprogramm der Tour übernimmt. Doch zunächst ist sie da, allein, mit dem weißen Cowboyhut auf dem Kopf, den sie auch auf dem Cover ihres aktuellen Soloalbums „Bright Futures“ trägt, und scherzt über ihr Lampenfieber.
Sie steht häufiger mit ihrer Band Big Thief auf der Bühne, die manchmal genug Lärm machen, um sich darin zu verstecken. Hier ist alles offen, daher muss der Gitarrensound zu Beginn neu justiert werden. „Simulation Swarm“ vom letzten Big Thief-Album „Dragon New Warm Mountain I Believe in You“ (2022) entwickelt selbst mit nur sechs Saiten eine Kraft, die andere Bands mit sechs Leuten nicht annähernd erreichen können. Während sie spielt, scheint das Publikum den Atem anzuhalten, um anschließend in begeisterten Applaus auszubrechen.
Doch mit Hakim am Klavier und als Gesangsunterstützung nimmt das Konzert richtig Fahrt auf. Die beiden sind seit ihrer Teenagerzeit befreundet und dieses Vertrauen ist in der natürlichen Interaktion zu hören. Die Nervosität ist endlich einigermaßen verschwunden. Ein Schluck aus der Club Mate-Flasche führt dazu, dass man darüber nachdenkt, wie man sich auf Konzerten am besten blamiert, indem man beim Singen rülpst (nicht gut) und sich in die Hose macht (noch schlimmer). Lenker vertieft sich fröhlich in die Peinlichkeit und erfindet ein sekundenlanges spontanes Lied über „Menschen/Menschenpinkeln“. Völlig albern und absolut wunderbar.
Das könnte Sie auch interessieren: Country-Star Kacey Musgraves feiert in Hamburg ihr Comeback – so brillant kontert sie einen Fan
Zurück zum Schluss: Eigentlich sind die meisten Leute nach „Anything“ emotional erschöpft (ein Freund schreibt vom anderen Ende des Saals: „Ich hoffe, du hast das erlebt“), aber der wahnsinnige Schlussapplaus bringt die beiden für einen letzten Song zurück auf der Bühne: „Not A Lot, Just Forever“, eine fabelhafte Grübelei darüber, was Glück eigentlich ist. Manchmal reichen eine Gitarre, ein Klavier und zwei Mikrofone. Nicht viel – und leider nicht für immer.
