AUDIO: Wilfried Hauke über seinen Lindgren-Film: „Eine ganz neue Astrid“ (7 Min)
Stand: 5. November 2025 16:44 Uhr
Kaum eine andere Autorin hat die Kinderliteratur so stark beeinflusst wie Astrid Lindgren. Der deutsche Regisseur Wilfried Hauke widmet ihr nun einen Film, eine Mischung aus Dokumentation und inszenierten Szenen. Darüber spricht er im Interview.
„Astrid Lindgren – Die Menschheit hat den Verstand verloren“ feiert am Donnerstag bei den Nordischen Filmtagen Lübeck Weltpremiere und kommt im Januar 2026 in die deutschen Kinos.
Herr Hauke, lernen wir in Ihrem Film eine neue Astrid kennen?
Wilfried Hauke: Das Zitat „Die Menschheit hat den Verstand verloren“ stammt aus ihren Tagebüchern, die sie während des Krieges von 1939 bis 1945 schrieb. Wenn man sich heute Kinderbücher anschaut, würde man nicht unbedingt sagen, dass die Menschen den Verstand verloren haben, ganz im Gegenteil. Es ist eine Gegenwelt zu dieser Zeit des Krieges. Das hat etwas mit Astrid zu tun, die nach dem Krieg zu dieser berühmten Astrid wird, die aber bereits beim Schreiben des Tagebuchs, aus dem später ihre Kinderbücher werden, das moralische, humanistische Grundkonzept dafür entwickelt hat.
Wie politisch erscheint die junge Astrid Lindgren in ihren Tagebuchtexten?
Hauke: Sie ist eine sehr scharfsinnige Analytikerin, Dokumentarfilmerin und Beobachterin. Im Gegensatz zu anderen Schweden wusste sie schon sehr früh, was in Deutschland mit der Deportation ihrer jüdischen Mitbürger geschah. Sie durchschaut es sehr schnell und kommt immer wieder auf den Kernpunkt zurück. Sie fragt sich, wie es sein kann, dass sich Menschen, Völker und Nationen von solchen „Psychopathen“ wie Hitler in die Irre führen lassen. Was passiert in so einem Land? Diese Frage stellt sie nicht nur an Stalin, Mussolini, Hitler und die anderen Diktatoren der Zeit, sondern auch an sich selbst und die Schweden: Sind auch wir in Gefahr? Kann uns das auch passieren? Worauf müssen wir achten, damit es uns nicht passiert?
Sie schrieb auch einmal: Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles wie andere Menschen machen muss. Wollte sie später mit ihrer Heldin Pippi Langstrumpf ein Gegengewicht zu den Gräueltaten Hitlers und Stalins schaffen, nach dem Motto: Ich mache die Welt so, wie sie mir gefällt?
Hauke: Ein bisschen, ja. Pippi Langstrumpf ist ein Kriegskind. Es entstand 1941 zunächst nur in mündlichen Erzählungen für die Tochter Karin, die in diesen Kriegszeiten in Schweden oft krank war. Ab 1944 schrieb sie diese Geschichten auch nieder. Das Schreiben eines Tagebuchs, dieser Dialog mit sich selbst, ist für sie ein Heilmittel, um diese schreckliche Zeit zu überstehen. Auf die Frage, ob es ein Gegengewicht zu Hitler und Stalin gewesen sei, antwortet die Familie Lindgren dennoch: Nein, sie sei bereits eine autonome Schriftstellerin gewesen. Aber natürlich ist der Freiheitsgeist, den Pippi ausstrahlt, auch eine Abrechnung mit der Diktatur.
Welche Spuren hat Astrid Lindgren in ihrer Familie hinterlassen und wie hat sie die Familie bis heute geprägt?
Hauke: Sie haben diese Pippi ihr ganzes Leben lang als Begleiter gehabt und haben auch mit der Last zu tun, wie man diese Pippi in unserer Zeit noch als ein großartiges Werk hochhalten kann, ein Werk, das neben „Harry Potter“ und anderen moderneren Kindergeschichten nicht verloren gehen sollte. Diese Familie trägt viel dazu bei, dass Astrid Lindgrens Erbe, Gedanken, Moral und Ethik weiterhin verständlich bleiben.
Andererseits gab ihnen die Lektüre des Kriegstagebuchs einen neuen Hinweis, da diese Kriegstagebücher erst 2015 veröffentlicht wurden. Unser Film erzählt die Geschichte, wie durch die Lektüre dieser Kriegstagebücher für die jüngere Generation in der Familie ein völlig neues Bild von Astrid entstand.
Mit einem historischen Film vollbringt man immer einen besonderen Kraftakt. Dies beginnt mit der Recherche. War die Mode in Schweden damals dieselbe wie bei uns? Erzählen Sie uns etwas über das Zurückdrehen der Zeit, auch optisch.
Hauke: Unser Film zeigt Schweden und Europa während des Krieges auch in historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Wir sehen, was Astrid damals sah. So vermitteln wir die Atmosphäre der Zeit. Natürlich zeigen wir auch schreckliche Bilder des Krieges. Es ist wichtig, dass wir verstehen, was für eine Welt das war, mit der Astrid konfrontiert war. Insofern greifen wir in die Geschichtsbox. Aber wir zeigen Astrid, dargestellt von der wunderbaren Schauspielerin Sofia Pekkari, auch in Spielfilmpartien und erleben sie emotional hautnah. Das ist keine Geschichte, sondern die Interpretation dieser unbekannten, neuen, politischen Astrid.
Die Menschheit hat den Verstand verloren – eine Erkenntnis, die immer noch zu gelten scheint. Was möchten Sie den Leuten, die den Film gesehen haben, mitnehmen – abgesehen von dem Wissen, das sie über die tagebuchschreibende Astrid Lindgren gewonnen haben, und der Tatsache, dass es eine schreibende Astrid Lindgren schon vor ihrer Karriere als Kinderbuchautorin gab?
Hauke: Weil unser Publikum diese Astrid neu kennenlernt und ihr auf diesem Weg durch den Krieg, durch ihre Krisen, durch das Schreiben als Trost in der Zeit und als politische Analytikerin folgt, können wir jetzt spüren, wie wichtig es ist, dass wir bei der Wahrheit bleiben, dass wir das Falsche als solches benennen. Dass wir uns fähig zu Empathie, Mitgefühl halten und uns nicht durch Ablenkung, wilden, übermäßigen Konsum und andere Dinge ablenken, sondern auch zu einer Astrid werden. Dass wir unsere Zeit beobachten und dort, wo wir das Gefühl haben, dass sie falsch ist, sie auch so benennen.
Das Gespräch führte Philip Cavert.

