Immer mehr Menschen in Deutschland handeln mit Derivaten. Oft reichen schon wenige Euro aus, um große Mengen zu bewegen und enorme Gewinne oder Verluste zu verzeichnen.
Der Handel mit risikoreichen Finanzprodukten wie Optionen, Hebelzertifikaten und CFDs nimmt zu – bundesweit investiert nach Zahlen der Aufsichtsbehörde BaFin inzwischen rund jeder fünfte Anleger in spekulative Wertpapiere. Während klassische Anlagen wie ETFs und Anleihen vergleichsweise stabile Jahresrenditen erzielen und als relativ risikoarm gelten, lockt die Aussicht auf schnelle, hohe Gewinne viele Anleger in die Welt der Derivate.
Das Wort Derivat kommt vom lateinischen „derivare“ und bedeutet „ableiten“. Ein Derivat ist ein Termingeschäft, das sich auf einen bestimmten Basiswert bezieht. Der Preis eines Derivats hängt immer direkt von diesem Basiswert ab. Solche Basiswerte können sehr unterschiedlich sein: Aktien, Rohstoffe, Edelmetalle oder neuerdings auch Kryptowährungen.
Derivate – in der Regel Zertifikate oder Optionsscheine – stellen eine eigene Produktklasse dar. Sie stellen im Wesentlichen eine Vereinbarung über den Wert eines bestimmten Wertpapiers dar. „Solche Produkte eignen sich eher für Anleger, die mit geringem Aufwand und innerhalb eines kurzen Zeithorizonts möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen wollen“, erklärt Professor Olaf Stotz von der Frankfurt School of Finance and Management im ARD-Finanzformat 50.000 auf YouTube.
Wetten Sie auf die Zukunft
Es gibt verschiedene Einzelprodukte, die zur Klasse der Derivate gehören. Dies sind zum Beispiel Optionen. Ihre Funktionsweise besteht darin, dass der Anleger mit seinem Broker einen Vertrag über den zukünftigen Preis einer bestimmten Aktie – also des zugrunde liegenden Wertes – abschließt. Sie vereinbaren entweder eine Kaufoption – Call genannt – oder eine Verkaufsoption – Put genannt. Bei Erreichen des vereinbarten Zeitpunkts hat der Anleger das Recht, die Option einzulösen, ist dazu jedoch nicht verpflichtet. Für dieses Recht zahlt der Anleger die Optionsprämie an den Broker.
Neben Optionen gibt es auch CFDs, sogenannte „Contracts for Difference“. Im Deutschen handelt es sich dabei um Differenzverträge. Dadurch können Anleger auf Preisänderungen spekulieren. Sie wetten also auf die Zukunft und prognostizieren beispielsweise steigende Preise. Steigt der Preis tatsächlich, schuldet der Broker dem Anleger Geld. Fällt der Preis jedoch stattdessen, schuldet der Anleger dem Broker Geld.
Die Hebelwirkung vervielfacht die Preisbewegung
Schon kleine Preisbewegungen können große Gewinne oder Verluste auslösen. Der Grund dafür sind die Hebel. Beim Leverage handelt es sich um einen vom Anleger vorab gewählten Multiplikator, der die Wirkung der Preisbewegung vervielfacht und so die Position um einen Faktor erhöht. Steigt der Wert beispielsweise um zwei Prozent, verändert sich die Position eines Anlegers mit zehn Hebeln um 20 Prozent.
In Deutschland gibt es strenge Regeln für einen solchen Hebel: Für Privatanleger sind maximal 30 Hebel zulässig. Und seit 2017 besteht keine Nachschusspflicht mehr. Drohende Verluste müssen somit nicht mehr mit zusätzlichem Geld ausgeglichen werden. Sonst wäre das Risiko für Anleger einfach viel zu hoch, sagt die BaFin.
Auch Hebelzertifikate oder Turbozertifikate zählen zu den Derivaten. Diese erfreuen sich vor allem bei aktiven Tradern großer Beliebtheit. Anleger setzen entweder auf steigende Kurse – das nennt man Long – oder auf fallende Kurse – das nennt man Short. Besonders heikel ist hier die sogenannte Knock-out-Schwelle: Wird dieser vorgegebene Wert erreicht, ist das Zertifikat sofort wertlos.
Hohes Verlustrisiko
Derivate zählen zu den riskanten Anlageformen. Deshalb wird oft davon abgeraten – das Risiko ist für Privatanleger besonders hoch. Bei den Turbo-Zertifikaten stellte die BaFin fest, dass drei von vier Anlegern Geld verloren, durchschnittlich 6.358 Euro pro Person. Und jeder Zehnte hat sogar mehr als 10.000 Euro verloren. Dennoch gibt es auch hierzulande Kleinanleger, die sich für solche Produkte entscheiden. Laut BaFin machen Turbo-Zertifikate und andere Derivate bei Privatanlegern einen Marktanteil von fast 20 Prozent aus.
„Wenn man sich riskante Zertifikate wie Hebelzertifikate anschaut, sieht man vor allem: Die Leute sehen den großen Gewinn, aber nicht die geringe Wahrscheinlichkeit, mit der der Gewinn erzielt werden kann“, erklärt Experte Stotz. Das Ziel, mit wenig Aufwand viel Geld zu verdienen, ist vielen Menschen wichtig. Um dies zu erreichen, ließen sie sich von Gefühlen statt von rationalen Entscheidungen leiten, etwa auf Basis kleiner Gewinnwahrscheinlichkeiten, sagt Stotz.
Emotionen beeinflussen das Anlageverhalten
Auch bei Aktieninvestitionen spielen Emotionen eine große Rolle. Der Wunsch nach Gewinn, die Angst vor Verlusten, die Panik, wenn die Zahlen im Portfolio im Minus sind: Manche Privatanleger handeln gerade in Schwächephasen wild hin und her. Solche Muster, die nichts mit fundierten Finanzentscheidungen zu tun haben, sind sogar empirisch belegt. Sie unterliegen einer Voreingenommenheit, einer Art Vorurteil.
Ein Beispiel hierfür ist der Aktualitätsbias. Das bedeutet, dass Menschen durch Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit voreingenommen sind. Dazu gehört beispielsweise der seit Jahren geltende Glaube „Immobilien sind sicher“. Viele Menschen kauften Immobilien, die Preise stiegen und alle dachten: Mit Immobilien kann man nur gewinnen. Doch genau das führte zu einer Blase, deren Platzen zumindest mitverantwortlich für die Finanzkrise 2008 war.
Eines der Verhaltensmuster, insbesondere bei Investitionsentscheidungen, besteht darin, dass Geld für bestimmte Zwecke in Kategorien eingeteilt wird. Miete, Geburtstagsgeschenke oder Sparplan an der Börse – ein ausgegebener Euro ist zwar immer weg, hat aber je nach Verwendung eine andere Bedeutung. Dazu gehört auch das Festhalten an Fehlinvestitionen, die objektiv schon längst hätten aufgegeben werden müssen. Der Gedanke dahinter ist oft: „Das hat mich einmal viel Geld gekostet, das verkaufe ich nicht.“
Reduzieren Sie das Suchtrisiko
Experte Olaf Stotz betont in 50.000-Video aber auch, dass neben der Gefahr, sich von Gefühlen leiten zu lassen, auch die Gefahr besteht, süchtig zu werden. Anlageprodukte wie Derivate werden in der Regel nur für kurze Zeit gehalten, in der Regel weniger als 24 Stunden. „Es besteht die Gefahr, dass ich davon abhängig werde, vom Nervenkitzel, die schnelle EM zu gewinnen“, sagte Stotz.
Viele Trader zeigen ganz ähnliche Muster: Sie handeln immer häufiger, machen weiter, obwohl sie bereits Verluste erlitten haben, und verlieren irgendwann völlig die Kontrolle. Besonders gefährdet sind diejenigen, die bereits eher impulsiv sind oder eine Neigung zum Glücksspiel haben.
Damit solche Investitionen nicht zu einer Überschuldung von Privatpersonen führen, empfehlen Experten, unbedingt mit Menschen in Ihrem Umfeld darüber zu sprechen. Durch die Kommunikation mit dem Partner, den Eltern oder Freunden schaffen Sie eine Art Fremdkontrolle und verringern das Risiko, still und leise in die Abhängigkeit abzurutschen. Und man sollte immer ehrlich zu sich selbst sein und den Moment erkennen, in dem es vorbei ist. Angesichts des hohen Verlustrisikos sollten Sie Geld nur in Derivate investieren, auf die Sie auf jeden Fall verzichten können.

