Für viele Menschen ist heute ein historischer Tag: Das Selbstbestimmungsgesetz tritt in Kraft. Das bedeutet mehr Selbstbestimmung über die eigene Geschlechtsidentität. Menschen, deren Geschlechtseintrag nicht mit ihren eigenen Empfindungen übereinstimmt, können ihren Eintrag nun ohne große Hürden ändern lassen. Anmeldungen zur Änderung können seit dem 1. August bei den Standesämtern vorgenommen werden. Der Andrang ist groß.
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Ihre eigene Erklärung statt eines ärztlichen Gutachtens
Mit Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes, kurz SBGG, können der Geschlechtseintrag und der Vorname im Personenstandsregister geändert werden. Künftig soll eine Erklärung statt zweier ärztlicher Gutachten genügen, um Geschlecht und Vornamen zu ändern. Transgender, Intersexuelle und nicht-binäre Menschen sollen von dem Gesetz profitieren.
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Die gewünschte Änderung muss zunächst beim Standesamt angemeldet werden. Nach Ablauf einer dreimonatigen Frist kann dann die eigentliche Erklärung abgegeben werden. Dies muss jedoch innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Sperrfrist geschehen. Andernfalls erlischt die Registrierung.
Bei Minderjährigen bis 14 Jahren müssen die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte die Änderungserklärung beim Standesamt abgeben. Jugendliche ab 14 Jahren können die Erklärung selbst abgeben, benötigen jedoch die Zustimmung der Eltern.
Queer-Beauftragter: Recht ist „großer Fortschritt“
Das SBGG ersetzt das seit den 1980er Jahren geltende Transsexuellengesetz (TSG). Ein wichtiger Aspekt des neuen Gesetzes: Es spielt keine Rolle, ob sich der Antragsteller bereits einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hat oder nicht. Sie können Ihr Geschlecht und Ihren Vornamen auch ohne Operation ändern lassen. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, sieht in dem neuen Gesetz einen „großen Fortschritt für Grund- und Menschenrechte“.
Neben Frauen und Männern können auch diverse Personen eingetragen werden. Oder die Geschlechtsangabe kann komplett gelöscht werden.
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Tausende Bewerbungen vor dem Start
Deutschlandweit wurden bereits Tausende Bewerbungen eingereicht. Einen aktuellen bundesweiten Stand gibt es nicht.
Laut einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa vom 25. Oktober gingen in Berlin mehr als 1.200 Anmeldungen ein. In Leipzig sind es über 500 und in Köln bereits über 360 Anmeldungen. In Essen sind die Termine für den Wechsel bis Februar ausgebucht. Einige Standesämter in NRW haben ihr Terminangebot bereits erweitert, um dem Andrang gerecht zu werden. In Hannover wollen bereits 240 Menschen den Wechsel wagen. Auch in Bonn, Düsseldorf und Kiel reichten mehr als 100 Personen Bewerbungen ein.
Vivienne Born war eine von über 100 Menschen in Kiel, die am 1. August sogar ihren Antrag eingereicht haben: „Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, warum ich mich in meinem Körper nicht wohl fühle“, erzählt sie den Kieler Nachrichten. „Und es war so schwierig, die richtigen Worte dafür zu finden.“ Der Weg dorthin war beschwerlich. „Man muss sich erst einmal eingestehen, dass man trans ist.“ Doch mittlerweile hat sie sich mit sich selbst arrangiert.
Das Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes sei eine Erleichterung insbesondere für Transgender, Intersexuelle und nicht-binäre Menschen, heißt es in der Inter*Trans*Beratung der Berliner Schwulenberatung.
„Ich würde mir nicht wünschen, dass mein schlimmster Feind trans ist.“
Der Bundestag hat das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet. Es ersetzt das 40 Jahre alte Transsexuellengesetz. Wie war es in den 1980er Jahren, transsexuell zu sein? Ist es heute einfacher? Janka Kluge und Eli Kappo blicken auf den Kampf um Selbstbestimmung zweier Generationen.
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„Transsexuelle zu sein ist in der Gesellschaft immer noch nicht willkommen. Allein der politische Widerstand, aber auch die Alltagserfahrungen junger Trans-Menschen sind der beste Beweis“, erklärt Trans-Aktivist Eli Kappo. Ein Coming-out ist noch immer mit vielen Nachteilen und Hürden verbunden. Das Selbstbestimmungsrecht soll nun einen weiteren Schritt hin zu mehr Selbstbestimmung und weniger Diskriminierung gehen.
Bisher große bürokratische Hürden
Als das Transgender-Gesetz noch in Kraft war, war ein großer bürokratischer Aufwand und kostspielige Verfahren notwendig, um das Geschlecht im Reisepass und Personalausweis zu ändern. Viele Transsexuelle empfanden das alte Gesetz als demütigend. Um die Namens- und Geschlechtsänderung zu erreichen, mussten die Betroffenen unter anderem ein psychologisches Gutachten und einen Gerichtsbeschluss vorlegen. Die Inter*Trans*Beratung der Berliner Schwulenberatung bezeichnete es als „entwürdigende Beurteilungen“, denen sich Menschen unterziehen müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat das TSG wiederholt für verfassungswidrig erklärt. Der Grund: Das „medizinische und gesellschaftliche Verständnis von Geschlechtsidentität“ habe sich weiterentwickelt. Insbesondere das Verständnis von Transsexualität gilt im Gesetz als veraltet.
Forderungen nach einer Erneuerung des Gesetzes gibt es schon seit längerem. Jetzt ist die SBGG da. „Ein Gesetz wie das Selbstbestimmungsgesetz ist wichtig und gut, wenn es genau das durchsetzt. Es muss auch echte Konsequenzen für mein Leben und auch für das soziale Miteinander haben. Daran müssen wir als Gesellschaft arbeiten“, sagt Kappo.
Es wird ein Missbrauch des Gesetzes befürchtet
Andere Stimmen stehen dem SBGG kritisch gegenüber – darunter auch Trans-Menschen selbst. Union und AfD kritisieren, dass die Änderung des Geschlechtseintrags missbraucht werden könnte. Sie befürchten, dass Männer in die sicheren Räume der Frauen eindringen.
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Die FDP-Organisation „Liberale Schwule, Lesben, Bi, Trans und Queer“ widerspricht: Das geplante Gesetz berücksichtige alle Eventualitäten, um Missbrauch insbesondere durch Cis-Männer zu verhindern. Das Gesetz besagt, dass die Registrierung des Geschlechts nicht automatisch den Zugang zu geschützten Räumen ermöglicht.
Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hält die Befürchtung, dass sich Männer oder Transfrauen missbräuchlich in Frauenbereiche einschleichen könnten, für entweder erfunden oder einen äußerst seltenen Einzelfall. Auch das private Hausrecht bleibt bestehen – also das Recht des Eigentümers, darüber zu entscheiden, wer zum Beispiel seine Wohnung oder seine Geschäftsräume betreten darf.
Eine Freikarte für jede Geschlechtsumwandlung
Es gibt auch immer wieder Befürchtungen, dass Kriminelle das Recht missbrauchen könnten. Wer das wollte, konnte durch den Wandel schnell eine neue Identität schaffen. Dies soll durch die Übermittlung von Daten bei Anträgen an die Meldebehörden, einschließlich der Strafverfolgungsbehörden, verhindert werden.
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Auch Unionsfraktionsvize Dorothee Bär befürchtet eine Art Freifahrtschein für verunsicherte Jugendliche zum willkürlichen Geschlechtswechsel. „Das Gesetz vermischt Biologie und Ideologie. Ich halte das für besonders gefährlich für Kinder und Jugendliche. „Das Selbstbestimmungsgesetz verstärkt ihre altersbedingte Unsicherheit“, sagte Bär dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Die Ampel suggeriert, dass nun jeder sein Geschlecht frei bestimmen kann und soll und alle pubertären Probleme und Herausforderungen gelöst sind.“
Um willkürliche Änderungen an Einträgen zu verhindern, sieht das Gesetz nun eine Sperrfrist von einem Jahr vor, bevor eine erneute Änderung möglich ist.
Mehr Diskriminierung durch neues Gesetz?
Die Betroffenen selbst kritisieren, dass das Gesetz zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen kann. Auch Tessa Ganserer, Grünen-Bundestagsabgeordnete und selbst geoutete Transfrau, meinte: „Überlegungsfristen und Sperrfristen sollten jetzt dort vorgeschrieben werden, wo es vorher keine gab.“ Darüber hinaus geht es in den Debatten zunehmend um die „möglichen und undenkbaren Möglichkeiten des Missbrauchs“. Recht – nicht um die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Betroffenen.
„Vorurteile, Hass und Hetze“ würden im aktuellen Gesetzentwurf „zementiert“, heißt es in einer Petition, die unter anderem von der Feministin Anne Wizorek initiiert wurde. Auch Queer-Vertreter Sven Lehmann sieht Verbesserungsbedarf, etwa bei der Sperrfrist. Er ist jedoch weiterhin davon überzeugt, dass das Gesetz das Leben von Transgender-, Intersex- und nicht-binären Menschen „spürbar erleichtern und verbessern“ wird.
https://www.ln-online.de/wissen/selbstbestimmungsgesetz-in-kraft-was-es-fuer-die-lgbtqia-szene-bedeutet-LV4UFEUXFNAGRGATGJQXLON34Q.html