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Warum Litauen in Aufruhr ist

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Seit 2024 sind die Rechtsextremisten in Litauen an der Macht – in einem bizarren Bündnis. Jetzt wächst die Sorge. Und der Protest. Eine Analyse.

Weniger als 50 Kilometer trennen Litauens Hauptstadt Vilnius von der weißrussischen Grenze. Und als ehemalige Sowjetrepublik hat das kleine Land einige schmerzhafte Erfahrungen mit Gewalt, Zwang und Unterdrückung aus Moskau gemacht. Entsprechend groß ist die Solidarität im Ukraine-Krieg seit Anfang 2022: Die ukrainische Flagge ist aus dem Stadtbild von Vilnius nicht mehr wegzudenken; es hängt an Geschäften, öffentlichen Gebäuden und an den Fenstern von Privatpersonen. Doch einer rechten Kleinpartei, die mitregiert, scheint es ein Dorn im Auge zu sein – und nicht nur deshalb brodelt es jetzt im Land.

Abgeordnete des ukrainischen Seimas präsentieren die ukrainische Flagge, im Vordergrund Inga Ruginiene.
Im Februar 2022 präsentierten Abgeordnete im litauischen Seimas die ukrainische Flagge – nun bereitet dieses Thema auch Premierministerin Inga Ruginienė Probleme. © Montage: Volodymyr Tarasov/Ukrinform/Aleksander Kalka/NurPhoto/Imago

Am vergangenen Wochenende sollen im ganzen Land Tausende Menschen demonstriert haben. Unter ihnen sind nicht zuletzt Kulturschaffende. Der Stein des Anstoßes ist das Kulturministerium. Ignotas Adomavičius von der rechten Nemuno Ausra („Morgenröte der Memel“, kurz NA) fungierte dort zuletzt volle acht Tage als Abteilungsleiter – dann trat er unter großem Druck zurück. Adomavičius hatte zuvor in einem Interview zu kritischen Stellen geschwiegen. Und er ließ kurzzeitig die ukrainische Flagge aus dem Ministerium entfernen. Doch die Bedenken gehen noch viel weiter.

Schweigen und Besorgnis der Ukraine über rechte Kulturpolitik: „Wir müssen gehen“

Es war die Antwort auf die Frage nach dem Status der Krim und den Standards für einen „Sieg“ der Ukraine, über die der Kurzzeitminister stolperte. „Das sind provokante Fragen“, sagte Adomavičius dem Portal Lrytas. Später fragte er den Sender LRT Einer Klarstellung zufolge handelt es sich hierbei um „besetztes ukrainisches Gebiet, das jetzt in Russland liegt“.

Gleichzeitig bemerkten Journalisten, dass die ukrainische Flagge aus dem Presseraum des Ministeriums verschwunden war. Ein Affront in einem Land, in dem Privatpersonen Millionen von Euro spenden, um das von Russland überfallene Land zu unterstützen. Bemerkenswert aus deutscher Sicht: Die deutsche Botschaft lud den damals amtierenden Kulturminister Adomavičius ein, sich über das Portal zu informieren BNS nicht an den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit teilnehmen.

Doch die Wurzeln des Problems liegen vor der Amtszeit des Ministers. Die LSDP-Sozialdemokraten haben die Wahl 2024 gewonnen. Sie bildeten eine ungewöhnliche Koalition: mit der DSVL, die auf europäischer Ebene zu den Grünen gehört – aber auch mit der scharf rechten NA, die mit 15 Prozent auf Anhieb ins Parlament einzog.

Das sorgte schon damals für Besorgnis. Nicht zuletzt wegen des Chefs der NA: Remigijus Žemaitaitis gründete die Partei erst, nachdem er wegen antisemitischer Äußerungen aus der Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ geworfen worden war. „Die Juden und Russen“ hätten die ethnische Litauer im Zweiten Weltkrieg unterdrückt, behauptete Žemaitaitis auf Facebook. Sie verübten auch das Massaker von Pirčiupiai. Tatsächlich war die SS dafür verantwortlich. Im kleinen Litauen ermordeten die Nazis (und vor ihrem Einmarsch sogar Litauer) mindestens 90 Prozent der dort lebenden Juden, rund 200.000 Menschen.

Litauens Regierung geriet im Sommer in große Turbulenzen: Premierminister Gintautas Paluckas trat unter Korruptionsvorwürfen zurück. Seit Ende September ist Parteikollegin Inga Ruginienė im Amt. Sie blieb ihrem Koalitionspartner NA treu – und übertrug ihm das Kulturressort. Auch prominente Demonstranten sehen darin das Grundproblem. „Der Nemuno-Schlamm muss raus. Das ist die Hauptsache“, sagte Vytautas Landsbergis dem Sender LRT. Der Großvater des ehemaligen litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis ist nicht nur Musikprofessor – der Konservative war auch das erste Staatsoberhaupt des gerade unabhängigen Litauens.

„Switcharoo“ in Litauen: Angespannte Nerven im Baltikum – Sorgen vor Russland schwingen mit

„Diese Partei, die für ihre populistische, antisemitische und prorussische Rhetorik bekannt ist, hat der Kultur in ihrem Programm kaum oder gar keine Beachtung geschenkt“, heißt es in einer Petition von Kulturschaffenden. Eine Übergabe dieses Bereichs an die NA wäre „für die Integrität unserer Gesellschaft als Ganzes“ gefährlich. Als „Switcharoo“ bezeichnen die Aktivisten die Amtsrochade im Kabinett nach dem Amtsantritt von Ruginienė. Laut LRT 250 Organisationen sind beigetreten und 81.000 Menschen haben unterzeichnet. Litauen galt lange Zeit als schwieriger Ort für die neue Rechte. Bis die NA kam.

Kritiker und Gegner der Partei wollen den Protest nach dem Rücktritt von Adomavičius fortsetzen – bereits am Wochenende. Sie wollen „echte Ergebnisse“, keine Versprechen, sagte Arūnas Gelūnas, Direktor des Litauischen Nationalen Kunstmuseums, am Dienstag. „Wir werden wie naive Leute behandelt, die jetzt ihre Party hatten“, fügte er hinzu. „Wir beobachten die Situation sehr genau und ‚Nein zu Nemuno Ausra im Kulturministerium‘ bleibt unser Slogan und unsere Forderung.“

Trotz des außergewöhnlichen lagerübergreifenden Regierungsbündnisses – oder vielleicht gerade deswegen – scheinen die Nerven im Land angespannt zu sein. Gelūnas beschwerte sich auf Facebook darüber, dass sein Wikipedia-Eintrag manipuliert worden sei und Unwahrheiten über seine Familie verbreitet worden seien. Mitglieder des Bündnisses mussten außerdem Vorwürfe zurückweisen, dass ein Putsch geplant sei.

Unterdessen hat die NA den Streit um die ukrainische Flagge erneut angeheizt. In einem Facebook-Post am Mittwoch schrieb die Partei unter der Überschrift „Wie viele Flaggenfarben haben wir?“ Zum Streit um die ukrainische Flagge: „Liegen diejenigen, die anderer Meinung sind, wirklich so falsch? Sie fragen nach ihrer Flagge, nicht nach der Russlands? Und sie werden angegriffen wie jemand, der ein rotes Kopftuch schwenkt.“ Doch Russland ist für viele im Baltikum schon lange ein Warnsignal. Das spiegelt sich auch im Streit um die ukrainische Flagge wider. (Quellen: LRT, Lrytas, BNS, Facebook, eigene Recherche)

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