Die untere Mittelschicht will strengere Regeln für Bürgerleistungsempfänger. Was steckt dahinter? Als Grund nennt ein Armutsforscher „Sozialneid“.
Berlin – Laut einer Umfrage hat sich eine deutliche Mehrheit für mehr Sanktionen gegen Bürgergelder ausgesprochen. In der Umfrage von YouGov im Auftrag des Deutsche Presse-Agentur (dpa) 63 Prozent der Befragten sehen die Reformen, die mit der neuen Grundsicherung des Bundes einhergehen, positiv. 54 Prozent halten die Pläne der Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz sogar für gerechter. Dies hätte massive Einschränkungen für die Sozialhilfeempfänger zur Folge.
Doch die Unterstützung für den Abbau von Sozialleistungen scheint bei Arbeitnehmern der unteren Mittelschicht besonders groß zu sein. Dies bestätigte auch Michèle Lamont Spiegel. Als Grund für diese Haltung nannte die Soziologin und Harvard-Professorin vor allem ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme. „Je weniger Geld man hat, desto intoleranter wird man gegenüber Sozialtransfers“, sagte sie.
Wer wenig hat, will wenig abgeben – woher kommt die Zustimmung zu Bürgergeldsanktionen?
Laut Lamont werden solche Einstellungen durch Krisenzeiten beschleunigt. Und weil sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland verschlechtert, verfallen viele Menschen in ein Wettbewerbsdenken. „Viele denken, dass das, was eine Gruppe bekommt, einer anderen zwangsläufig nicht mehr zur Verfügung stehen kann. Wer bekommt was? Diese Frage wird für viele Menschen noch wichtiger, wenn die Gesellschaft in eine Situation wirtschaftlicher Knappheit gerät“, sagt der Soziologe Spiegel-Interview.
Einen ähnlichen Mechanismus entdeckte auch der Armutsforscher Christoph Butterweg im August 2024. Im Gespräch mit der Zeit Er sagte, dass die Ungleichheit zwar nach oben zunehme, Ersparnisse aber immer zuerst bei den unteren Einkommensgruppen angestrebt würden. Butterweg spricht von einem zunehmenden „sozialen Neid nach unten“, der durch eine immer größer werdende Angst vor Abstieg verstärkt werde.
In der Debatte geht es immer um sogenannte „Totalverweigerer“, also Menschen, die Bürgergeld beziehen, aber keine Jobangebote annehmen. „Natürlich gibt es solche Menschen, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen, aber nur in geringer Zahl. Allerdings würde eine rigide Sanktionspraxis, wie sie jetzt gefordert wird, kaum Trickser und Betrüger treffen, sondern vor allem Menschen, die gesundheitliche oder psychische Probleme haben und so große Angst vor dem Jobcenter haben, dass sie dessen Briefe nicht mehr öffnen“, sagt Butterweg.
Mehrheit für mehr Sanktionen auf Bürgergelder – die Ersparnisse bleiben vorerst aus
Auch die Einsparungen, die sich aus der neuen Grundsicherung für das Geld der Bürger ergeben könnten, dürften hinter den Erwartungen der meisten Menschen zurückbleiben. „Allein die Maßnahmen des Gesetzentwurfs werden keine nennenswerten Einsparungen bringen“, heißt es aus SPD-Kreisen in der Regierung. Das Arbeitsministerium unter Bärbel Bas (SPD) rechnet mit Einsparungen von 86 Millionen Euro im Jahr 2026. Weitere 69 Millionen könnten im darauffolgenden Jahr hinzukommen. Kanzler Merz hatte Einsparungen in zweistelliger Milliardenhöhe angekündigt.
Die Integration in den regulären Arbeitsmarkt ist trotz der geplanten Sanktionen in vielen Fällen schwierig. Denn rund 80 Prozent der Langzeitarbeitslosen hätten keine ausreichende Qualifikation, berichtete Deutsche Welle. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, beschreibt die geplante Reform des Bürgergeldes Neue Osnabrücker Zeitung als „populistische Ablenkungstaktik“. Vermeintlich Faule sollten bestraft werden, „damit es dem Rest der Bevölkerung besser geht.“ (Quellen: dpa, Spiegel, Zeit, Neue Osnabrücker Zeitung, Deutsche Welle) (nhi)
