Der Autokonzern Volkswagen wird am kommenden Mittwoch die Produktion des Golf an seinem Stammsitz in Wolfsburg einstellen. Das berichtet die Bild-Zeitung und beruft sich dabei auf mit der Angelegenheit und den aktuellen Planungen des Unternehmens vertraute Personen. VW wollte den Schritt zunächst nicht offiziell bestätigen. Volkswagen hatte die Belegschaft an diesem Morgen auf Produktionsstopps vorbereitet – allerdings unter der Überschrift „Die Produktion ist derzeit noch nicht betroffen“. Nach FAZ-Informationen laufen Gespräche zwischen Volkswagen und der Arbeitsagentur über Kurzarbeit.
Der Konflikt um den Chiphersteller Nexperia droht die gesamte Branche zu erfassen, da Halbleiter quasi über Nacht zum knappen Gut geworden sind. „Die Chips reichen noch ein paar Tage“, hieß es am Dienstag aus dem Volkswagen-Konzern. Im Klartext hieß das: Der Produktionsstopp wurde vorbereitet. Betroffen sind Modelle des gesamten Konzerns, darunter Porsche und Audi.
Berichten zufolge wird fieberhaft an Übergangslösungen gearbeitet, sodass sich die Planungen noch kurzfristig ändern könnten. Die Gespräche zwischen Volkswagen und der Agentur für Arbeit über Kurzarbeit werden voraussichtlich im November beginnen. Wie bei VW spielen Krisenstäbe in der gesamten Autoindustrie die Extremsituation durch, dass der Mangel anhalten könnte – weil die Situation wirtschaftlich nicht zu lösen ist.
Nexperia produziert jährlich 100 Milliarden Chips
Zehntausende Mitarbeiter könnten in naher Zukunft mit einem Chipmangel an ihrem Arbeitsplatz konfrontiert sein. „Das ist eine globale Auswirkung, es ist wirklich gravierend. Diese Chips sind wie Vogelfutter, ich will damit sagen, dass sie in fast allen Bestandteilen enthalten sind“, beschreibt ein Branchenexperte das Problem. „Man kann diese Chips natürlich umgestalten, aber das dauert Monate – und die Vorräte reichen nicht so lange. Wenn sich nichts ändert, wird die Lieferkette in absehbarer Zeit leer sein – und dann wird die Produktion eingestellt.“
Hintergrund der Krise ist die Tatsache, dass der Chiplieferant Nexperia im Zentrum eines geopolitischen Streits steht. Weil Nexperia mit einer jährlichen Produktion von 100 Milliarden Chips rund die Hälfte des Weltmarktes für Standardchips dominiert, gerät letztlich die gesamte Branche in den Konflikt. Bezogen auf die Automobilindustrie liegt der Weltmarktanteil bei 40 Prozent. Allein aus diesem Grund ist die Beschaffung von Ersatz nicht so einfach. Viele Nexperia-Kunden nutzen inzwischen schnell alle möglichen Quellen, um ihre Vorräte aufzufüllen, weshalb die Preise bereits stark gestiegen sind.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat am Mittwoch die Betroffenen zu einem Krisengipfel zusammengerufen: Automobilhersteller und ihre Zulieferer, aber auch große Maschinenbauer, Fabrikzulieferer und Spezialisten für Automatisierungstechnik. Ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums sagte, man stehe in engem Kontakt mit den verschiedenen Beteiligten, darunter auch der chinesischen Regierung, und suche nach Lösungen. Hildegard Müller, Präsidentin des Automobilherstellerverbandes VDA, berichtete am Dienstag, man stehe im Kontakt mit der Bundesregierung und der EU-Kommission: „Der Fokus sollte derzeit auf der Suche nach schnellen und pragmatischen Lösungen liegen.“
Keine Spitzentechnologie
Das Problem ist milliardenschwer. Der Chipmangel in den Jahren 2021 bis 2023, der mit den Corona-bedingten Logistikschwierigkeiten zusammenhing, verringerte die deutsche Wirtschaftsleistung (BIP) in dieser Zeit um mehr als 100 Milliarden Euro, das waren 2,4 Prozent des BIP im Jahr 2022.
Nach Angaben des Digitalverbandes ZVEI haben einige Unternehmen ihre Lager bereits vor Monaten gefüllt und einen Puffer von bis zu einem Jahr geschaffen. Schließlich waren Sanktionen im Chipgeschäft zwischen den USA und China ein Vorbote der aktuellen Situation. Andere Unternehmen lebten quasi Hand in Hand mit den Nexperia-Chips – vielleicht auch im Vertrauen darauf, dass die Hälfte der Nexperia-Chips aus der Hamburger Fabrik kommt. Dies hilft in der aktuellen Krise jedoch nur bedingt, da der Großteil der Weiterverarbeitung in China stattfindet.
Aus der Pandemie gelernt
Dabei geht es nicht um die neueste Spitzentechnologie, sondern um elektronische Komponenten, die zum Teil schon seit Jahrzehnten auf dem Markt sind. Sie seien schnell und einfach nachzubauen und kosten oft ein paar Cent pro Stück, erklärt Clemens Otte, ZVEI-Bereichsleiter Mikroelektronik, und warnt: „Das ist ein Weckruf, uns breiter und widerstandsfähiger aufzustellen.“
Diese Entwicklung hatte bereits während der Corona-Krise begonnen, muss nun aber schneller und entschlossener vorangetrieben werden – und zwar in allen Bereichen. Auch der niedersächsische Ministerpräsident Olaf Lies, der als Mitglied des VW-Aufsichtsrats direkt mit der Thematik befasst ist, forderte, dass in Europa eigene Kapazitäten für die Produktion von Schlüsselkomponenten wie Halbleitern, Batteriezellen und grünen Materialien aufgebaut und strategisch gesichert werden müssten.
Beim ZVEI richtet man den Blick bereits auf die nächste mögliche Krise: Auch in Bereichen wie Leiterplatten ist die Produktion hierzulande vielfach aufgegeben worden. Heute werden bestenfalls zwei bis drei Prozent dieser Teile hierzulande hergestellt. Der Rest kommt hauptsächlich aus Asien.
Allerdings blieb die vorangegangene Chipkrise nicht ohne Lerneffekt. Die Mercedes-Mitarbeiter etwa haben das „Lochmontieren“ gelernt: Mercedes produziert weiterhin und stellt die Autos ohne Sitzheizung, ohne elektrische Fensterheber und ohne den automatischen Kofferraumdeckel auf den Hof, weil für diese Teile die Nexperia-Chips fehlen, damit sie fertig werden können, wenn die Halbleiter wieder verfügbar sind.
Es handelt sich um eine teure Notlösung, zu der Mercedes nun erneut greifen könnte. Mercedes sagt, dass sie „kurzfristig“ immer noch abgesichert sind. Für Zulieferer ist diese Variante von Vorteil, denn wenn die Produktion komplett ausfällt (wie im Fall von VW geplant), vergrößert sich ihr Problem: Dann nehmen die Autohersteller mangels Nachfrage keine Teile mehr an, auch solche, die nichts mit Elektronik zu tun haben.
Ein kurzfristiger Wechsel zu anderen Chiplieferanten sei in der Automobilindustrie aus regulatorischen Gründen nicht so einfach, berichtet Jörg Buchheim, Vorstandsvorsitzender des Autodachherstellers Webasto: Die Zulassung eines neuen Chipherstellers kann durchaus zwölf Monate dauern. Etwas besser schneiden Unternehmen ab, die über eine höhere eigene Wertschöpfung verfügen. „Wir beziehen keine individualisierten, sondern nur standardisierte Chips von Nexperia“, erklärt Trumpf Technology-Chef Berthold Schmidt. Das Software-Design der Chips spielt gegenüber den Halbleitern eine Trumpfkarte, weshalb es möglich ist, bei der Hardware auf andere Anbieter auszuweichen.