Annalena Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Noël Barrot sind die ersten EU-Außenminister, die nach dem Sturz des Assad-Regimes syrischen Boden betreten haben. Die Grünen-Politikerin landete am Vormittag in einem Propeller-Transportflugzeug der Bundeswehr vom Typ A400M auf dem Flughafen der Hauptstadt Damaskus.
Gemeinsam mit Barrot führte sie im Auftrag der EU Gespräche mit Vertretern der Übergangsregierung. Der Chef der islamistischen Rebellengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS), Ahmed al-Scharaa, empfing die beiden am Eingang zum Palast am Anfang eines langen roten Teppichs. Während der Islamist, wie bei der Begegnung mit Frauen für ihn üblich, Baerbock nicht per Handschlag begrüßte, streckte er Barrot die Hand entgegen.
Nachdem der Franzose zunächst zur Begrüßung seine rechte Hand auf die Herzgegend gelegt hatte, ergriff er dann doch kurz die Hand al-Scharaas. Es ist das erste Treffen mit hochrangigen westlichen Politikern seit der Machtübernahme durch die Islamisten in Damaskus. Dort stellte Baerbock jedoch klar, Europa werde nicht Geldgeber neuer islamistischer Strukturen sein.
An diesem Wochenende ist es genau vier Wochen her, dass Vertreter HTS das Land aus der Unterdrückung von Langzeitherrscher Baschar al-Assad befreit haben.
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„Ein politischer Neuanfang zwischen Europa und Syrien, zwischen Deutschland und Syrien ist möglich“, sagte Baerbock vor ihrer Abreise. Voraussetzung sei aber, dass allen Syrern, Frauen wie Männern, gleich welcher ethnischen oder religiösen Gruppe, ein Platz im politischen Prozess eingeräumt, Rechte gewährt und Schutz geboten werde.
HTS steht vor vielen Problemen
Zwar haben sich die neuen syrischen Machthaber um HTS-Chef Ahmed al-Scharaa – auch bekannt unter seinem Kampfnamen al-Dscholani – bislang deutlich weltoffener präsentiert, als von einigen anfangs befürchtet wurde. Dennoch sind die Herausforderungen, vor denen sie nun stehen, gewaltig.
Bis zu freien Wahlen könne es vier Jahre dauern, dämpfte al-Scharaa kürzlich die Erwartungen. Syrien steht nach einem halben Jahrhundert unter der Herrschaft des Assad-Clans vor vielen Problemen: religiöse Spannungen, Gefechte zwischen bewaffneten Gruppen, Verwüstung durch 13 Jahre Krieg, riesige Staatsschulden und Einmischung ausländischer Mächte.
Ein Überblick über die wichtigsten Herausforderungen für den neuen Staat:
1 Innere Spannungen brechen auf
Scharaas Kämpfer stürzten den langjährigen Präsidenten Baschar al-Assad vor vier Wochen fast ohne Blutvergießen, doch inzwischen brechen innere Konflikte im Land auf.
Assad-Anhänger töteten etwa 14 Polizisten bei einem Gefecht in Tartus an der Mittelmeerküste. Die HTS reagierte mit Razzien gegen mutmaßliche Gegner des neuen Staates. Im Nordosten Syriens kämpfen pro-türkische Milizen gegen kurdische Gruppen. In einigen Landesteilen greift die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) wieder verstärkt an.
Schlüsselpositionen werden wahrscheinlich Muslimen vorbehalten bleiben.
Nahostexperte Joshua Landis über die Besetzung von Posten in der neuen Regierung.
Scharaa will die HTS auflösen und alle Milizen in neue Streitkräfte eingliedern, doch wer die neue Armee befehligen wird, ist offen. Die Fragen nach dem Verhältnis zwischen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit und religiösen Minderheiten sowie nach Gleichberechtigung von Frauen sind ebenfalls noch nicht beantwortet.
Möglicherweise werde Scharaa weniger bedeutende Posten in der Regierung mit Vertretern nicht-muslimischer Minderheiten besetzen, sagte der Syrien-Experte Joshua Landis von der Universität im US-Bundesstaat Oklahoma dem Tagesspiegel. „Aber Schlüsselpositionen werden wahrscheinlich Muslimen vorbehalten bleiben.“
Scharaas HTS beherrscht zudem nicht ganz Syrien: Der Nordosten wird von kurdischen Milizionären gehalten. Die Kurden, die rund zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, wollen ihre Selbstverwaltung sichern, die sie sich im Bürgerkrieg erkämpft hatten.
Ob das gelingen kann, ist unklar. Ein erstes Gespräch von Scharaa mit Vertretern der syrischen Kurden diese Woche verlief nach Medienberichten positiv; greifbare Ergebnisse gab es aber nicht.
Der HTS-Chef sagte dem saudischen Sender al-Arabiya, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die von einer „Konferenz des Nationalen Dialogs“ diskutiert werden soll, könne bis zu drei Jahre dauern. Bis dahin will die sunnitisch-islamistische HTS an der Macht bleiben.
Eine der wichtigsten Organisationen der bisherigen syrischen Exilopposition, die Syrische Nationale Koalition, hat nach eigenen Angaben noch keine Einladung zur Dialog-Konferenz erhalten.
2 Der Staat ist pleite
Assads Diktatur machte eine kleine Gruppe an der Spitze des Staates reich, während die meisten Syrer kaum genug zum Leben hatten. Beamte verdienten umgerechnet 19 Euro im Monat, Soldaten mussten mit 17 Euro auskommen, wie Assads letzter Ministerpräsident Mohammed Dschalali der kurdischen Nachrichtenseite Rudaw sagte.
Zudem verließ sich Assads Regierung auf Partner wie den Iran, der Öl und Geld nach Damaskus schickte, und verdiente Milliarden mit dem Export der Droge Captagon. Damit ist es nun vorbei. Teheran hat die Öllieferungen an Syrien eingestellt und verlangt 29 Milliarden Euro an Finanzhilfe zurück. Die HTS hat Drogenlabore zerstört und große Rauschgiftmengen vernichtet.
Rund 17 der 22 Millionen Syrer brauchen humanitäre Hilfe, schätzen die Vereinten Nationen. Der syrische Staat wird auf absehbare Zeit aber kein Geld für die Versorgung der Hungernden, Gehaltserhöhungen, den Wiederaufbau oder die Rückzahlung von Schulden haben.
Die Wirtschaft liegt nach 13 Jahren Krieg am Boden und muss nach der Korruption der Assad-Zeit reorganisiert werden. Der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes wird nach einer Schätzung der US-Denkfabrik Carnegie Middle East Center bis zu 380 Milliarden Euro kosten – unbezahlbar für einen Staat mit einer Wirtschaftskraft von nur sechs Milliarden Euro.
17
Millionen Syrer brauchen laut UN-Angaben humanitäre Hilfe.
Scharaa verlangt eine rasche Aufhebung westlicher Sanktionen, die gegen das Assad-Regime verhängt waren. Derzeit wird die HTS aber von den UN und westlichen Staaten noch als Terrorgruppe eingestuft.
3 Das Ausland mischt mit
Israel besetzte nach Assads Sturz eine Pufferzone an der Westgrenze von Syrien und flog Luftangriffe auf syrische Militäranlagen. Die Türkei hält seit Jahren syrische Gegenden im Norden des Landes besetzt und schickt nun Ankara-treue Milizen in neue Gefechte gegen syrische Kurden.
Im Nordosten Syriens sind zudem rund 2000 US-Soldaten stationiert, im Westen des Landes unterhält Russland einen Luftwaffen- und einen Marinestützpunkt.
Assads früherer Verbündeter Iran ruft die Syrer zum Widerstand gegen die neuen Machthaber auf. Gegner der HTS-Regierung würden sich neu formieren, sagte Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei.
Syriens Nachbarn Türkei, Libanon und Jordanien wollen nach dem Umsturz möglichst schnell Hunderttausende syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückschicken. Das könnte neue Probleme für Damaskus schaffen, denn es gibt kaum Arbeit und Wohnungen für Rückkehrer. (mit AFP und dpa)