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Unsere Favoriten auf der Shortlist

Unsere Favoriten auf der Shortlist

Die Jury des Deutschen Buchpreises 2025 hat sechs Romane aus der Longlist ausgewählt – eine Mischung aus etablierten und neuen Stimmen. Neben erfahrenen Autoren wie Dorothee Elmiger, Christine Wunnicke und Thomas Melle sind es drei neuere Namen: Kaleb Erdmann mit seinem zweiten Roman „Die alternative Schule“ und die beiden Debütantinnen Jehona Kicaj mit ihrem Roman „ë“ und Fiona Sironic mit ihrem Buch „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und sprengen Dinge in die Luft“.

Die Auswahl befasst sich intensiv mit psychologischen, sozialen und politischen Themen – von Depression und Selbstmord über Gewalt bis hin zu Fragen der Sprache, Herkunft und Identität. Unsere Literaturredakteure verraten uns, welche Titel ihre Favoriten sind.

Buchcover des Buches

Der Autor Kaleb Erdmann, selbst Zeitzeuge der Erfurter Schießerei, verarbeitet in seinem Roman die Folgen des Traumas.© Ullstein-Verlag

Woran denken wir, wenn wir Erfurt, den Namen der Landeshauptstadt Thüringens, hören? Nicht wenige Menschen denken an etwas Unvorstellbares – so auch an den namenlosen Erzähler, einen Schriftsteller in Kaleb Erdmanns autofiktionalem Roman „Die alternative Schule“.

Dieses Unvorstellbare geschah vor gut 20 Jahren. Er ist in der Schule, er ist Fünftklässler und schreibt eine kurze Arbeit über Pinguine. Wenn es irgendwo in der Schule Lärm gibt, vielleicht von einer Baustelle, rumpelt etwas – und dann öffnet sich die Tür und ein maskierter Typ schaut in den Klassenraum. Er ist bewaffnet. Er schaut sich um und geht dann wieder raus.

Kaleb Erdmann selbst und sein Alter Ego im Roman erzählen die Geschichte nicht so, wie ich es jetzt tue. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine echte Kriminalhandlung. Dennoch ist der Roman spannend, weil er das Unvorstellbare nach dem Unvorstellbaren lesbar macht: die Überforderung, die Repression und das Nichtvergessen nach einem Mordanschlag auf Menschen in einer Erfurter Schule.

Am 26. April 2002 wurden 17 Menschen getötet und Hunderte traumatisiert. Und dieses Trauma ist für den Erzähler im Roman eine Odyssee, die ich nur dank dieses Buches verstehe. Er bekommt Panikattacken in der feuchten ICE-Toilette. Er hat Zwänge, die sehr peinlich sein können, wenn man ihn erwischt. Er schläft nicht, er forscht zu Tode.

Wir kommen ihm sehr nahe, bleiben aber auch auf Distanz – was mich beeindruckt hat. Allein der Titel schreit nach Distanz: Alternativschule. Was für ein Wort. Wo ist wer ausgewichen? Bitte lesen! (Lydia Harms)

Kaleb Erdmann: „Die alternative Schule“
park x ullstein Verlag, Berlin, 2025
304 Seiten, 22 Euro

Die preisgekrönte Autorin Christine Wunnicke erzählt von zwei Frauen, die im Paris des 18. Jahrhunderts ihren Weg zwischen Kunst und Wissenschaft finden.© Berenberg Verlag

Im Grunde ist Lesen wie Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen See. So wie man vorsichtig einen Fuß auf das gefrorene Wasser stellt und prüft, ob das Eis ihn trägt, so prüfe ich, ob ich auf festem Boden stehe, wenn ich ein Buch aufschlage und die erste Seite lese.

Ich habe im Frühjahr Christine Wunnickes Roman „Wachs“ gelesen und sofort gespürt: Diese Autorin weiß, was sie tut.

Und dann ist da noch eine interessante Geschichte, die mir Christine Wunnicke in ihrem Roman erzählt. Es geht um die Liebe zweier Frauen im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Die eine ist Anatomin und seziert Leichen, auch wenn man das als Frau damals nicht durfte. Und der andere? Für den französischen König zeichnet sie Blumenbilder auf Papier. Ich wünsche mir, dass Christine Wunnicke in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis erhält, weil „Wachs“ ein herausragendes Literaturbuch ist. (Nora Karches)

Christine Wunnicke: „Wachs“
Berenberg Verlag, Berlin 2025
192 Seiten, 24 Euro.

In Fiona Sironics Debüt trotzen Mädchen dem Ende einer Welt. Ein Roman über Katastrophen und den Versuch, die Hoffnung aufrechtzuerhalten.© Ecco Publishing

Ich liebe das Feuerwerk Lakoniens, das dieses Buch zündet – und das beginnt gleich am Anfang: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und sprengen Dinge in die Luft. Pappbecher, Aluminiumdosen, Plastikflaschen. Die Luft ist warm, der Wald voller Kiefern – ist das nicht fantastisch? Kurz und cool.

Hervorragend finde ich auch, dass dieser Roman die Katastrophen, von denen er erzählt, weder beklagt noch beklagt und schon gar nicht pädagogisiert, sondern sie wie am Rande aufzeichnet – und so unter die Haut geht.

Die Katastrophen sind die Auswüchse der digitalen Revolution, des Klimawandels und des Artensterbens. Und der Erzähler Era notiert dies ganz leise am Beispiel der Vögel: Heute ist die letzte Turteltaube gestorben, heute die letzte Feldlerche, der letzte Buntspecht, die letzte Dohle und so weiter. Das ist eine Nervensäge. Das ist die Zukunft.

Doch Fiona Sironic bringt noch viel mehr Zeitreihen in ihren Roman ein, weil sie ihre Geschichte gekonnt in den großen Strom der Erdgeschichte einbettet, in die Ereignisse des Massensterbens vor hundert Millionen Jahren.

Und in diesem Buch gibt es keine menschlichen Männer. Die Mädchen und Frauen, von denen Sironic spricht, kämpfen gegen die Verluste – mal solidarisch, mal gegeneinander. Doch sie serviert uns hier keine negative Idylle, sondern zeigt, wie fragil und kämpferisch jede Form des Überlebens ist.

Es würde mir wirklich gefallen, wenn dieser mit so ruhiger, kühler Wut erzählte Roman den Deutschen Buchpreis gewinnen würde. (Frank Meyer)

Fiona Sironic: „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und sprengen Dinge in die Luft“
Ecco Verlag, Hamburg, 2025
208 Seiten, 23 Euro

Jehona Kicaj beschreibt in ihrem Debüt das Aufwachsen zwischen Albanien und Deutschland, zwischen zwei Sprachen und Welten.© Wallstein-Verlag

Die junge, namenlose Studentin in Jehonas Kicajs Debütroman „ë“ hat das schwere Kieferproblem „Bruxismus“ – beim Knirschen schädigt sie ihren Zahnschmelz so stark, dass sie Gefahr läuft, irgendwann nicht mehr kauen oder sprechen zu können, wie ihr Arzt erklärt.

Ihr Schmerz erweist sich als körperliches Symptom einer tiefsitzenden Sprachlosigkeit: Schon im Kosovo musste sie schweigen, als ihre Eltern mit ihr die serbische Grenze überquerten; Nur durfte kein einziger albanisches Ton aus dem Mund des Kindes kommen. In Deutschland lernt sie die neue Sprache durch das Fernsehen.

Ausgehend vom Mund ihrer Protagonistin erforscht Jehona Kicaj die Traumata der kosovarischen Gesellschaft. Sie lässt ihre Protagonistin auf verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen ihre Herkunft zusammenfügen: den Krieg im Kosovo und ihr Aufwachsen und Leben in Deutschland, das durchdrungen ist von der Ignoranz und dem Unwissen vieler Deutscher über ihr Herkunftsland, die Geschichte und den Krieg – kurz: über ihre geteilte kulturelle Identität.

Ein höchst poetischer und komplexer Text, in dessen Zentrum die Sprache selbst steht: So fragmentiert und brüchig die Knochen sind, die Jehona Kicaj seziert, so mühelos fügt sie sie sprachlich zusammen – die Sätze fließen und verschränken sich in- und übereinander.

Der Roman stellt einen universellen Diskurs über Menschenrechte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Gewalt- und Kriegserfahrungen und Traumata dar; und nicht zuletzt für die fragmentierten Identitäten von Menschen, die Unrechtssystemen, ihrer Gewalt und Unterdrückung ausgeliefert sind.

All das erzählt Jehona Kicaj ausgehend von einem kleinen Buchstaben einer (historisch) unterdrückten Sprache und findet zu ihrer ganz eigenen Sprache der Sichtbarkeit. Ein großartiges Stück Literatur, das eine komplexe Welt erschließt und erlebbar macht. (Lara Sielmann)

Jehona Kicaj: „ë“
Wallstein Verlag, Göttingen
76 Seiten, 22,00 Euro

In „Haus zur Sonne“ blickt Thomas Melle in die Tiefen psychischer Erkrankungen.© Verlag Kiepenheuer & Witsch

Mein Favorit für den Deutschen Buchpreis ist „Das Haus der Sonne“ von Thomas Melle. Dieses Buch ist der absolute Wahnsinn, denn trotz des sehr hellen Titels mit der Sonne poetisiert es die Dunkelheit auf eine sehr düstere Art und Weise. Melle, der vor neun Jahren für sein spannendes manisches Stück „Die Welt im Rücken“ den Deutschen Buchpreis hätte erhalten sollen, soll nun für seinen Abschluss zumindest mit dem öffentlichsten Literaturpreis hierzulande geehrt werden.

Näher am Rande kann man kaum schreiben, nämlich seiner dystopischen Geschichte über eine Suizidklinik, die uns mit einem der größten Mysterien der Philosophie konfrontiert, nämlich dem Selbstmord.

Und in diesem Buch wird auch die Frage gestellt, ob man sich umbringen sollte oder vielleicht doch einen anderen Weg finden sollte, und die hochbegabte Melle findet diesen anderen Weg. Sein Ventil gegen die Selbstzerstörung ist das Schreiben und die Literatur.

Mit letzter Kraft widersetzt sich dieser Text dem Wahnsinn auf eine Weise, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur beispiellos ist. Und das Unerhörte sollte bestenfalls als bester Roman des Jahres ausgezeichnet werden, also als derjenige, der herausragt. Und Melle sticht heraus, und mit diesem Buch sticht er auch in unsere Herzen, und er sticht in die Dunkelheit.

Und wer sich dieser Dunkelheit so nah nähert wie Thomas Melle in „Haus der Sonne“, sollte unbedingt den Deutschen Buchpreis des Jahres 2025 erhalten. (Jan Drees)

Thomas Melle: „Haus zur Sonne“
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2025
320 Seiten, 24 Euro

In „The Dutch Women“ rekonstruiert Dorothee Elmiger das Verschwinden zweier Frauen im Dschungel von Panama.© Hanser Verlag

Beim Lesen gefällt es mir am besten, wenn ich richtig in eine Geschichte hineingezogen werde. Und das passiert oft, wenn es um etwas Tiefgründiges geht – wie in einem guten Kriminalroman. Dorothee Elmigers Buch bietet beides auf ganz besondere Weise, denn „The Dutch Women“ ist weder ein Krimi, noch lässt sich diese Geschichte so einfach zusammenfassen. Und das ist auch ein Argument für ein Buch: wenn es mehr ist als nur seine Handlung. Aber das gibt es natürlich auch.

Es geht um einen ungelösten Vermisstenfall, um zwei Niederländerinnen, die 2014 im Dschungel von Panama verschwanden – und trotz einer unglaublich aufwändigen Suchaktion nie wieder auftauchten. Ein bekannter Theatermacher möchte diesen Fall in den Tropen nachstellen. Er lädt den Erzähler, einen bekannten Autor, ein, als Chronist mitzuwirken.

Wir lesen den Bericht, den sie zwei Jahre später einer Gruppe von Studierenden vorlegte: über diese Reise, die immer tiefer in den Dschungel führt, in der die anderen Teilnehmer immer skurrilere Geschichten erzählen, in denen es unzählige Anspielungen auf Philosophie und Kulturgeschichte gibt und so ein immer dichteres Netz entsteht, fast ein Dschungel von Geschichten, in den man regelrecht hineingezogen wird.

Und plötzlich ist dieses kurze Buch zu Ende. Es hat nur 160 Seiten und ich dachte: Ich möchte es sofort noch einmal lesen, weil ich nicht genau verstanden habe, was daran so faszinierend ist. Und ich merke auch, wenn ich das Buch jemandem empfehlen möchte: Es lässt sich nicht einfach nacherzählen. Man muss es einfach den Leuten geben und sagen: Lies das. Dieses Buch ist wirklich unglaublich. (Andrea Gerk)

Dorothee Elmiger: „Die Holländerinnen“
Hanser Verlag, München, 2025
160 Seiten, 23 Euro


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