Um die benachbarten ukrainischen Frontstädte Pokrowsk und Myrnohrad in der Ostukraine toben zwei Schlachten gleichzeitig: Einerseits ein immer heftiger werdender Kampf mit Waffen und Drohnen, andererseits ein Propagandakrieg. Am Dienstagabend gab es im Ticker einen Bericht, dass der ukrainische Generalstab eine schwierige Lage in Pokrowsk einräumte, der russischen Darstellung einer eingeschlossenen Stadt jedoch widersprach. Am Mittwochmorgen forderte das russische Verteidigungsministerium die ukrainischen Truppen in Pokrowsk zur Kapitulation auf.
Obwohl es aus der Ferne unmöglich ist, die tatsächliche Lage an diesen Frontabschnitten im Detail zu beurteilen, sind zwei Dinge klar. Erstens legen sowohl der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch der russische Staatschef Wladimir Putin großen Wert auf die kleinen Städte an der Front. Auf jeden Fall hat Selenskyj gerade einen Besuch an der Front bei Pokrowsk abgestattet; Putins Generäle wiederum hätten in diesem Frontabschnitt „ihre Hauptangriffskraft konzentriert“, wie Selenskyj es ausdrückte.
Zweite Eine Einkesselung scheint in naher Zukunft zumindest eine Möglichkeit zu sein, wie ein Blick auf die Kriegskarte zeigt:
Soldaten schildern dramatische Lage
Mehrere Soldatenberichte weisen zudem darauf hin, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in Pokrowsk und Myrnohrad in einer prekären Lage befinden, die zu einer Einkesselung und dem Fall beider Städte führen könnte. Das ukrainische Medium „Hromadske“ sprach mit mehreren betroffenen Soldaten. Ein Drohnenpilot, im Text Valeriy genannt, drückte es am drastischsten aus: „Pokrowsk und Myrnohrad sind bereits verloren„, sagte er. Im Original: „Pokrowsk und Myrnohrad sind schon am Arsch, kurz gesagt.“ Seine Einheit musste sich zuletzt dreimal in Pokrowsk zurückziehen, weil die russischen Soldaten schnell durch die Stadt vorrückten.
Beamte geben außerdem zu, dass russische Soldaten in die Stadt eingedrungen seien. Haben sie Teile von Pokrowsk unter ihrer Kontrolle? Ein hochrangiger Beamter hat dazu eine klare Meinung: „Die Russen kontrollieren etwa 60 Prozent der Stadt„, sagte er „Hromadske“. Feindliche Truppen seien auch in die Nachbarstädte Myrnohrad und Rodynske eingedrungen, weshalb die Lage „Scheiße“ sei.
Drohnenpiloten müssen sich plötzlich wie Infanteristen verteidigen
In Pokrowsk gelingt es russischen Truppen immer wieder, sich hinter ukrainische Infanteriestellungen zu schleichen und so die Drohnenpiloten zu gefährden, berichtet Hromadske unter Berufung auf mehrere Quellen. Daher hätten sich ukrainische Drohnenpiloten mit traditionellen Waffen gegen die Angreifer wehren müssenobwohl sie meist nur hinter ihren Monitoren agieren.
Klar ist: Wenn sich Drohnenpiloten plötzlich selbst erschießen oder die Position wechseln müssen, können sie die russischen Einheiten nicht aus der Luft bekämpfen. Aber genau darauf ist die ukrainische Armee angewiesen, denn sie ist ihrem Gegner in Pokrowsk zahlenmäßig deutlich unterlegen. Daran zweifeln auch die Beamten nicht.
Ein von „Hromadske“ zitierter Kommandant befürwortet die Aufgabe bestimmter Gebiete wegen schwindendem Personal und einer immer enger werdenden Nachschubroute – siehe Karte oben. Aber auch die ganze Stadt? Es wäre ein Fehler, Pokrowsk jetzt aufzugeben, sagte ein anderer Soldat aus dem Hauptquartier einer Verteidigungsbrigade. Die Überlegung: In diesem Fall könnten russische Drohnenpiloten gut geschützt in der Stadt stationieren und ukrainische Soldaten aus einer Entfernung von 30 Kilometern angreifen.
Pokrowsk und Myrnohrad teilen ihr Schicksal
Der Fall von Pokrowsk hätte noch eine weitere Konsequenz: Von dort führt eine Hauptstraße nach Myrnohrad. Auch die Kleinstadt wird von der russischen Armee angegriffen. Die Versorgung der Nachbarstadt erfolgt über diese Route – zumindest vorerst.
Sollte Pokrowsk an die russische Armee fallen, wäre Myrnohrad von der Versorgung abgeschnitten. Umgekehrt wäre ein Fall von Myrnohrad auch schlecht für Pokrowsk, argumentierte ein Soldat der 38. Marinebrigade in einem Interview mit Hromadske. Dann könnte Russland von dort aus seine Drohnen starten. „Wenn Pokrowsk fällt, wird es Myrnohrad nicht mehr geben. Wenn Myrnohrad fällt, wird es kein Pokrowsk mehr geben„.
Kritiker glauben, dass die Aufgabe beider Städte angesichts der drohenden Einkesselung durch russische Truppen die bessere Lösung wäre. Dies würde es ukrainischen Soldaten ermöglichen, dem Tod oder der Gefangennahme zu entgehen und sich auf weiter westlich gelegene Verteidigungsposten zurückzuziehen, selbst wenn dies bedeutete, dass Putin weitere Erfolge erzielen konnte. Selenskyj wird vorgeworfen, einen Abzug aus politischen Gründen zu lange hinausgezögert zu haben, ähnlich wie bei den zuvor verlorenen Städten Bachmut (fiel 2023) und Awdijiwka (fiel 2024). Tatsächlich hat Prokrowsk inzwischen seine Funktion als logistischer Knotenpunkt verloren – und damit eine wichtige militärische Funktion. (mit dpa/Reuters/AFP)
