An diesem Wochenende ist es in Kiew noch Sommer. Die vergoldeten Kuppeln der Klöster und Kirchen spiegeln die Sonne, und auf der Aussichtsplattform unterhalb der Andreaskirche machen junge Leute in leichter Kleidung und bei Kaffee Selfies vor strahlend blauem Himmel. Erst im Dunkeln, wenn die Alarm-Apps schrillen, kehrt der Krieg zurück. Auch in der Nacht von Freitag auf Samstag drangen Shahed-Drohnen in den ukrainischen Luftraum ein, wie schon so oft in den vergangenen Wochen. Die meisten werden von der ukrainischen Luftabwehr abgefangen; Kiew trifft in dieser Nacht nichts, in anderen Städten im UkraineMan könnte zynisch sagen, dass sich Russland auf den Winter vorbereitet und weiterhin die Energieinfrastruktur der Ukraine angreift. Dabei werden fast täglich Zivilisten verletzt oder getötet.
In diesem emotionalen Nirvana, irgendwo zwischen sommerlicher Leichtigkeit, winterlicher Angst und dem bangen Gefühl, dass sich bald etwas entscheiden könnte, fand an diesem Wochenende zum 20. Mal die Konferenz „Jalta European Strategy“ statt. Veranstalter war die Stiftung des ukrainischen Milliardärs, Oligarchen und Philanthropen Viktor Pintschuk. Das jährliche Treffen von Politikern, Militärs, Analysten und Geschäftsleuten ist traditionell ein Treffen der Freunde der Ukraine. Ein Nachtzug brachte unter anderem den polnischen Außenminister Radosław Sikorski nach Kiew mitgebracht, sein litauischer Kollege Gabrielius Landsbergis, der Präsident Estlands, Alar Karis, und eine ganze Reihe hochrangiger Militärs, darunter auch aus Deutschland. Strubbelig wie immer und leicht gebeugt schlendert der frühere britische Premierminister Boris Johnson durch die Gänge des Intercontinental-Hotels.
Die Konferenz wird von Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich eröffnet, sein Stabschef Andrij Jermak wird sprechen, ebenso wie der neue Außenminister, der Verteidigungsminister und der Chef des militärischen Geheimdienstes. Auch die USA werden gut vertreten sein, es kommen Kongressabgeordnete, Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan wird per Videolink an der Konferenz teilnehmen und Donald Trumps ehemaliger Außenminister Mike Pompeo wird als Trump-Unterstützer, Trump-Erklärer und Verfechter der Position sprechen, dass die Unterstützung der Ukraine im nationalen Interesse der USA liege. USA – eine Einstellung, die sein ehemaliger Chef nicht teilt.
Konferenz unterbrochen
Hier, so könnte man meinen, könne man eine Ahnung davon bekommen, was in den nächsten Wochen militärisch und politisch passieren wird. Es sind entscheidende Wochen für die Ukraine, so viel steht fest. Am 5. November wird in den USA abgestimmt, der ukrainische Präsident will eine weitere Friedenskonferenz einberufen, die militärische Lage ist unbeständiger als im ersten Halbjahr, seit die Ukrainer im August Hunderte Quadratkilometer russischen Territoriums in der Region eroberten. Kursk gesiegt haben.
Doch es handelt sich um eine Konferenz im Wartezustand – und damit um ein Sinnbild für die politische Lage der gesamten Ukraine in diesem Spätsommer.
Konkret warten alle dieser Tage auf eine Entscheidung von Joe BidenParallel zur Konferenz in Kiew reiste der britische Premierminister Keir Starmer nach Washington, D.C. Viele Beobachter hofften, dass Biden und Starmer bekannt geben könnten, ob sie der Ukraine erlauben würden, mit Langstreckenraketen des Typs Storm Shadow Ziele tief im Inneren russischen Territoriums zu treffen. Die Ukrainer argumentieren immer wieder, dies sei nötig, um Abschussrampen zu zerstören, von denen aus die Russen ihre gefürchteten Gleitbomben in die Ukraine schicken. Präsident Selenskyj unterstrich die ukrainische Forderung in seiner Eröffnungsrede noch einmal. Doch das Treffen zwischen Biden und Starmer endete ohne die erhoffte Ankündigung.