Mehrere Städte in der Ostukraine sind von einer bevorstehenden russischen Eroberung bedroht. Der ukrainische Kartendienst Deepstate identifiziert bereits große Teile der Bergbaustadt Pokrowsk als „Grauzone“, also weder von der Ukraine noch von Russland kontrolliert. Auch die Zufahrtsstraßen zum benachbarten Myrnohrad dürften bereits unter russischer Feuerkontrolle stehen.
Bisher gelang der ukrainischen Armee in solchen Fällen immer ein Rückzug, und seit der Eroberung Mariupols im Frühjahr 2022 kam es nicht mehr zu einer Massenfestnahme umzingelter Soldaten. Dennoch reagierten ukrainische Militärbeobachter mit scharfer Kritik auf die Situation. Der Blogger und Drohnenbeschaffer Serhiy Sternenko verwies am Donnerstag auf die verlorenen Städte Avdiivka, Vuhledar und Sudja. In jedem dieser Fälle „zogen sich unsere Soldaten im letzten Moment unter großen Verlusten zurück und ließen ihr Eigentum und ihre Ausrüstung zurück.“ Das Gleiche passiert jetzt wieder, als hätte niemand aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.
Der ukrainische Armeechef Olexandr Syrskyj besuchte am Donnerstag einen Stab im Frontabschnitt Pokrowsk und sprach von einer „komplexen Situation“. Der offiziellen Erklärung zufolge ordnete Syrskyj an, die Versorgungs- und Evakuierungswege zu sichern. „Oberste Priorität hat jedoch die Rettung des Lebens unserer Soldaten“, wurde Syrskyj zitiert. Auch den ukrainischen Streitkräften droht der Verlust von Kupjansk in der Region Charkiw. Im Falle einer Niederlage in der 2022 zurückeroberten Stadt würden vermutlich auch Nachbarorte östlich des Oskil-Flusses an die Besatzer fallen.
Unterdessen wurde ein Wärmekraftwerk in der russischen Stadt Orjol durch einen ukrainischen Drohnenangriff beschädigt. Die Folgen waren ihm zufolge Stromausfälle und Probleme mit der Fernwärme in einigen Teilen der Stadt rund 400 Kilometer südwestlich von Moskau. Nach Angaben des Geheimdienstes SBU hat die Ukraine seit Jahresbeginn 160 russische Öl- und Energieanlagen angegriffen. Die anhaltenden Angriffe dürften die Fähigkeit Russlands verringern, seinen Krieg in der Ukraine zu finanzieren, sagt SBU-Chef Wasyl Maljuk.
Bei einem russischen Luftangriff auf einen Kleinbus im Norden der Ukraine wurden mindestens zehn Menschen verletzt. Das Fahrzeug wurde in der Nähe von Sumy von einer Drohne getroffen. Bei der Explosion seien zehn Insassen, darunter zwei Kinder, zum Teil schwer verletzt worden, sagte der regionale Militärverwalter Oleh Hryhorov auf Telegram.
Insgesamt 23 Angriffe mit Mittelstreckenwaffen
Unterdessen sagte der ukrainische Außenminister Andriy Sybiha gegenüber Reuters, dass Russland in den letzten Monaten auch die Ukraine mit Marschflugkörpern des Typs 9M729 angegriffen habe. Im Streit um Täuschungen, die durch die Entwicklung dieser Waffe ausgelöst wurden, trat Donald Trump 2019 während seiner ersten US-Präsidentschaft aus dem INF-Vertrag aus. Die Russen beschrieben es als Kurzstrecken-Trägersystem mit einer Reichweite von 480 Kilometern, während der Westen es als Mittelstreckenwaffe bezeichnete, die bis zu 2.500 Kilometer entfernte Ziele erreichen könne.
Der INF-Vertrag verbot alle landgestützten Trägersysteme für Atomwaffen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Reuters berichtete nun unter Berufung auf weitere ukrainische Quellen, dass es seit August 23 Angriffe mit der von der Nato als SSC-8 bezeichneten Marschflugkörper gegeben habe. Bei einem davon am 5. Oktober legte er mehr als 1.200 Kilometer zurück. Dies sind die ersten Bestätigungen für den Einsatz der Waffe im Kampf. Sybiha sagte, Russlands Machthaber Wladimir Putin zeige, dass er Trumps diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges missachtet habe.
Putin hat in den letzten Tagen immer wieder davon gesprochen, neue Liefersysteme zu testen. Trump kündigte dann am Donnerstag an, er werde „unsere Atomwaffen auf gleichberechtigter Basis testen“. Putins Sprecher sagte, die russischen Tests seien „in keiner Weise nuklear“ gewesen und man hoffe, dass Trump ordnungsgemäß informiert worden sei. Wenn ein Land das Moratorium für Atomtests bricht, wird Russland „entsprechend handeln“. Putin selbst zog es vor, das Thema im öffentlichen Teil seiner Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Freitag nicht anzusprechen.

