Haiti kämpft seit Jahren gegen Bandenkriminalität. Trotz einer internationalen Sicherheitsmission bleibt die Lage angespannt. Immerhin wurde nun ein Rat eingerichtet, der die Grundlagen für Wahlen legen soll.
Vergangene Woche besuchte der UN-Menschenrechtsexperte William O’Neill erneut Haiti, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Am Freitag hatte O’Neill bei seiner Pressekonferenz wenig Positives zu berichten: „Vor etwa einem Jahr stand ich vor Ihnen, um Ihnen eine Einschätzung der Menschenrechtslage in Haiti zu geben. Mit Trauer musste ich feststellen, dass alle Indikatoren nach wie vor äußerst besorgniserregend sind, vor allem das Ausmaß der Unsicherheit.“
Trotz aller Maßnahmen breitet sich die Bandenkriminalität aus. Mindestens 700.000 Menschen seien dadurch obdachlos geworden, so O’Neill. Fast 1.400 Menschen wurden zwischen April und Juli getötet oder verletzt. Die Banden kontrollieren mittlerweile rund vier Fünftel der Hauptstadt Port-au-Prince.
Trotz der Unterstützung der im Oktober 2023 vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen internationalen Sicherheitsmission ist es den haitianischen Sicherheitskräften bislang nicht gelungen, die Lage zu verbessern. Denn der nationalen Polizei fehlen logistische und technische Kapazitäten. „Die multinationale Polizeimission verfügt derzeit über weniger als ein Viertel ihrer geplanten Stärke“, so O’Neill. Zudem sei die erhaltene Ausrüstung unzureichend.
Hoffnungen ruhten auf einem neuen Regierungschef
Dennoch konnte US-Außenminister Antony Blinken bei seinem jüngsten Besuch in Port-au-Prince Fortschritte feststellen: Den Sicherheitskräften sei es gelungen, den internationalen Flughafen von den Banden zurückzuerobern und die Kontrolle über wichtige Straßen zu gewinnen.
Das für die Versorgung der Bevölkerung so wichtige Universitätskrankenhaus ist zwar „befreit“, aufgrund der Sicherheitslage aber nicht in Betrieb. Der neue Regierungschef Garry Conille musste bei einem Besuch Ende Juli sogar fliehen, weil Banden aus umliegenden Bezirken auf das Krankenhaus schossen.
Vor allem die internationale Gemeinschaft hatte große Hoffnungen auf Conille gesetzt, als dieser am 11. Juli sein Amt antrat. UN-Menschenrechtsexperte William O’Neill äußerte sich Ende der Woche dennoch vorsichtig optimistisch über ihn: „Ich begrüße die Bemühungen des Premierministers, den Kampf gegen die Korruption zu einer Priorität zu machen.“
Korruption durchdringe das System auf allen Ebenen – insbesondere in der Justiz, so O’Neill weiter. „Aber die Anstrengungen zur Bekämpfung von Korruption und schlechter Regierungsführung müssen sofort verdoppelt werden, da diese das Land weiterhin in eine beispiellose humanitäre Krise stürzen.“
Noch ein langer Weg bis zur Überwindung der Krise in Haiti
Ob es Ministerpräsident Conille mit der Korruptionsbekämpfung wirklich ernst meint, ist allerdings eine andere Frage: Gerade erst hat ein Korruptionsskandal das Land erschüttert. Drei der acht Mitglieder des präsidialen Übergangsrates wurden vom Chef der Nationalen Kreditbank der Korruption beschuldigt.
Statt die Vorwürfe zur Chefsache zu machen, entließ Conille den gesamten Vorstand der staatlichen Kreditbank. Vertrauen schafft das nicht. Immerhin: Seit vergangenem Mittwoch steht endlich ein Wahlrat, der den Grundstein für Wahlen bis spätestens 2026 legen soll. Seine Mitglieder sollen die wichtigsten Bereiche der Gesellschaft repräsentieren, darunter Religionsgemeinschaften, Universitäten, Presse, Bauernverbände, Gewerkschaften und Menschenrechtsaktivisten.
Es wären die ersten Wahlen seit zehn Jahren. Jahre, in denen Präsident Jovenel Moïse 2021 ermordet wurde und die Banden weite Teile des Landes de facto übernahmen. Trotz der anhaltenden Polizeimission und Wahlen am Horizont ist es noch ein weiter Weg, bis die tiefe Krise Haitis überwunden ist.
Markus Plate, ARD Mexiko-Stadt, tagesschau, 22.09.2024 11:50 Uhr