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Tritt der Ukraine-Krieg in eine neue Phase?

Russische Panzer kehren auf das Schlachtfeld in der Ukraine zurück: In den letzten Tagen häuften sich Berichte über maschinelle Angriffe auf den besonders umkämpften Frontabschnitt bei Pokrowsk. Monate zuvor hatte sich die russische Armee vor allem auf ihre Infanterie verlassen.

Nun will Russland offenbar die Regen- und Nebelperiode zu seinem Vorteil nutzen – eine Zeit, in der die Wirksamkeit von Drohnen nachlässt und der Einsatz von Panzern wieder möglich ist. Ukrainische Militärexperten gehen daher nicht davon aus, dass die Kämpfe im Winter nachlassen. Im Gegenteil: Russland passt seine Taktik dem Wetter an, um seinen Vormarsch im Osten fortzusetzen.

Doch die Sommeroffensive blieb für den Kreml ohne entscheidenden Erfolg. Der Vormarsch auf Kostjantyniwka und Pokrowsk – Städte, die zu strategischen Zielen erklärt wurden – scheiterte: Die Russen prallten an der ukrainischen Verteidigung ab und mussten auf langwierige Flankenmanöver zurückgreifen. Die eroberten rund 1.600 Quadratkilometer machen weniger als 0,3 Prozent der Landfläche der Ukraine aus.

„Bisher gab es kein Waterloo für die Ukraine“, schreibt Oberst Michail Chodarenok, Militärkommentator der kremlfreundlichen Zeitung Gazeta.ru. Ihm zufolge haben die ukrainischen Streitkräfte bisher keine „verheerenden Niederlagen“ erlitten, die das Land zur Aufgabe zwingen würden. „Ohne solche Niederlagen kann man keine Kriege gewinnen“, gibt der russische Propagandist zu.

Unterdessen deuten russische Daten, die dem ukrainischen Geheimdienst vorliegen sollen, auf erhebliche Verluste hin. Demnach gibt es rund 286.000 russische Soldaten – verwundet, getötet oder vermisst.

An der Front hat es keinen Durchbruch gegeben, aber eines ist klar: Russland behält ein gewisses Angriffstempo bei.

Mykola BielieskowMilitäranalytiker und Berater am National Institute for Strategic Studies

Von einer Erschöpfung der russischen Streitkräfte kann jedoch kaum die Rede sein. Die Gefahr einer Umzingelung Pokrowsks bleibt bestehen. Darüber hinaus sind russische Truppen auf mehrere Städte im Donbass vorgerückt und weiten ihre Angriffe auf die Region Dnipropetrowsk aus. Die russischen Truppen auf ukrainischem Territorium zählen rund 700.000 Soldaten – fast 100.000 mehr als im Jahr 2024.

„An der Front hat es keinen Durchbruch gegeben, aber eines ist klar: Russland behält ein gewisses Angriffstempo bei. Tatsächlich hat es an der Front seit zwei Jahren die strategische Initiative – dank des Vorsprungs bei Personal und Feuerkraft“, sagt Mykola Bielieskow, Militäranalytikerin und Beraterin am Nationalen Institut für Strategische Studien. „Solange Russland über ausreichende Ressourcen und die Fähigkeit verfügt, Verluste auszugleichen, wird der Kreml weiterhin an der bewährten Strategie des Zermürbungskrieges festhalten“, sagt der Experte.

Allerdings hat der massive Einsatz von Drohnen die Kriegsführung grundlegend verändert: Rasche Vorstöße der Truppen sind, anders als in den ersten Phasen der Invasion, kaum mehr möglich. „An der Front hat sich ein Stellungskrieg etabliert, der immer mehr an den Film ‚Tag des Murmeltiers‘ erinnert“, sagt Mykola Bielieskow. „Beide Seiten kämpfen mit spiegelähnlichen Technologien und kopieren gegenseitig ihre Erfahrungen und Entwicklungen bei der Produktion und dem Einsatz von Drohnen. Russland hat hier keinen technologischen Vorteil.“

Der Krieg breitet sich aus – auf beiden Seiten

Vor diesem Hintergrund – und als unmittelbare Folge der festgefahrenen Lage an der Front – gewinnen Luftangriffe auf das Hinterland zur Zermürbung des Gegners zunehmend an strategischer Bedeutung. Darauf setzt nach Ansicht von Bielieskow nicht nur Moskau, auch Kiew weitet seine Luftmacht zusehends aus.

Russland greift seit 2022 die Energieinfrastruktur der Ukraine an, doch nun treffen die Angriffe das Land mit neuer Wucht. Das Ziel des Kremls liegt auf der Hand: die Zivilbevölkerung zu erschöpfen und so die Regierung zu Zugeständnissen an Russland zu bewegen.

Russland führt unter anderem in der Region Odessa immer wieder Drohnenangriffe gegen die Energieinfrastruktur durch. (Archiv)

© Uncredited/Ukrainian Emergency Service/AP/dpa

Laut Bloomberg haben die Angriffe Anfang Oktober bis zu 60 Prozent der ukrainischen Gasproduktion außer Betrieb gesetzt. Als Folge der Angriffe auf Energieanlagen kam es landesweit zu Notabschaltungen. Die Prognosen der Experten sind ernüchternd: Der vierte Kriegswinter dürfte der bisher härteste werden.

Was lange nur die Ukraine betraf, betrifft nun auch Russland: Erstmals seit Beginn der Invasion antwortet Kiew mit Gegenschlägen auf Angriffe auf die Energieinfrastruktur. „Wir haben ihnen gesagt, dass sie verstehen müssen: Wenn sie uns ohne Strom lassen wollen, werden wir das Gleiche tun“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Die russische Grenzregion Belgorod spürt nun die Folgen der ukrainischen Angriffe. Das dortige Heizkraftwerk „Lutsch“ wurde seit dem 28. September dreimal getroffen – mit der Folge flächendeckender Stromausfälle und Störungen der Wasserversorgung. Der Gouverneur der Region, Wjatscheslaw Gladkow, forderte die Bevölkerung auf, sich mit Generatoren zu versorgen.

Kiew hat das wirtschaftliche Rückgrat Russlands im Visier

Allerdings zielten die ukrainischen Angriffe auf das russische Energiesystem bisher eher auf eine psychologische Wirkung ab – als Signal dafür, dass Kiew nicht länger stillsteht, sondern sich wehrt. Im Vordergrund scheinen derzeit weitreichende Angriffe auf die Ölverarbeitungsindustrie zu stehen – die wichtigste Finanzierungsquelle für Russlands Krieg. Der Angriff auf die Raffinerie in Tjumen, rund 2.000 Kilometer von der Front entfernt, verdeutlichte die Verwundbarkeit auch im tiefen russischen Hinterland.

Seit Anfang August hat die Ukraine insgesamt 29 Angriffe auf russische Raffinerien verübt. Infolgedessen sind mehr als die Hälfte der Regionen Russlands von Benzinknappheit betroffen – zahlreiche Tankstellen mussten ihren Betrieb einstellen. Auf der besetzten Krim wurde eine Obergrenze für den Verkauf von Benzin eingeführt.

Die russische Regierung war gezwungen, Treibstoffexporte bis zum Jahresende zu verbieten und die Importe zu erhöhen. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) werden die Folgen der ukrainischen Angriffe die Verarbeitungskapazität russischer Raffinerien mindestens bis Mitte 2026 einschränken.

Auffallend ist, dass die Intensivierung ukrainischer Fernangriffe mit einem veränderten Ton von US-Präsident Donald Trump gegenüber dem Kreml und einer Annäherung an Kiew einhergeht. Die Financial Times berichtete außerdem, dass amerikanische Geheimdienste an der Planung der weitreichenden Angriffe auf russische Energieanlagen beteiligt seien.

Nach Angaben des Militärportals „Defence Express“ hat die Ukraine bei Langstreckendrohnen inzwischen ein Produktionsgleichgewicht mit Russland erreicht – bei deutlich geringeren Stückkosten. „Von der FP-1-Drohne werden etwa 3.000 Einheiten pro Monat hergestellt. In Russland beträgt die Produktion der ‚Shahed‘-Drohnen laut Geheimdienstdaten etwa 100 Einheiten pro Tag“, heißt es in dem Bericht.

Seit mehreren Monaten meldet das russische Verteidigungsministerium fast täglich den Abschuss ukrainischer Drohnen – meist Dutzende, manchmal Hunderte. Diese Serie erreichte am 7. Oktober ihren Höhepunkt, als russische Luftverteidigungsbeamte sagten, sie hätten 209 Drohnen in zehn Regionen abgefangen. Über die Folgen der Anschläge gibt es kaum eine offizielle Berichterstattung. Doch Videos in sozialen Netzwerken zeigen immer wieder Explosionen und Brände an Militär- und Industrieanlagen im ganzen Land.

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