Torhagel, Dramen, Gefühlswahn
Diese Bundesliga-Endspiele haben uns in den Wahnsinn getrieben
Von Martin Armbruster
27. Mai 2023 um 8:41 Uhr
Zehn Jahre lang dominierte der FC Bayern die Bundesliga nach Belieben, das Meisterschaftsrennen verkam zur Dauerlangweile. 2023 wird es endlich anders sein: Am letzten Spieltag ist der Kampf um den Pokal noch offen, die Fans von Borussia Dortmund und München sind alarmiert. Zeit, auf das spannendste Finale der Saison zurückzublicken.
Saison 1977/78 – Kölner Jubel trotz Gladbacher Torhagel
Die rheinischen Rivalen 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach stehen 1978 nach 33 Spieltagen punktgleich an der Spitze. Vor dem Finale am 29. April spricht alles für den Kölner Trainer Hennes Weisweiler. Der FC hat eine um zehn Tore bessere Tordifferenz und muss beim Absteiger FC St. Pauli antreten. Im Düsseldorfer Rheinstadion empfängt Gladbach die „anderen“ Borussen aus Dortmund, die unter Otto Rehhagel im unbedeutenden Mittelfeld tummeln.
Dennoch entwickelt das Saisonfinale eine unerwartete Spannung und geht als Torspektakel in die Geschichte ein. Die „Fohlen“ um Berti Vogts und Jupp Heynckes trampeln gnadenlos über völlig unpässliche Dortmunder hinweg. Zur Pause steht es 6:0, die Hälfte des Kölner Torvorsprungs ist weg (der FC liegt zur Halbzeit nur 1:0 vor St.Pauli). Nach Wiederanpfiff geht der Torhagel gegen Rehhagels schwarz-gelbes Tagesluschen weiter – nach 90 Minuten prangt ein unglaubliches 12:0, der bislang höchste Sieg der Bundesliga-Geschichte. Trotz der Show sieht Gladbach den Bach runter. Köln legt im hohen Norden einen Gang zu, gewinnt 5:0 und rettet einen Drei-Tore-Vorsprung über die Ziellinie.
Staffel 1991/92 – „Lebbe geht wieder“
Eines der am häufigsten verwendeten Wörter im Sportjournalismus ist „unglaublich“. Doch genau das geschah im Saisonfinale 1992. Eintracht Frankfurt, VfB Stuttgart und Borussia Dortmund haben am 38. Spieltag jeweils 54:20 Punkte auf dem Konto (die Liga war nach der Wiedervereinigung auf 20 Mannschaften aufgestockt worden). Frankfurt hat das beste Blatt: Die Mannschaft von Dragoslav Stepanovic (+36) hat eine deutlich bessere Tordifferenz als Stuttgart (+29), während Dortmund (+18) eigentlich nur eine Außenseiterchance hat. Und doch sieht es nach der schwarz-gelben Überraschung im Finale wie eine lange Zeit aus. Der BVB geht in Duisburg früh in Führung, Frankfurt hadert mit Hansa Rostock, Stuttgart mit Leverkusen – in beiden Spielen steht es bis zur Schlussphase 1:1.
In den letzten zehn Minuten entfalten sich die Ereignisse. Im Spiel in Rostock wird das vermeintliche Sieg- und Meisterschaftstor der Eintracht zurückgerufen, in Leverkusen meckert „Motzki“ Matthias Sammer vom Feld und beschert dem VfB einen Man Down. Und es kommt noch wilder: Frankfurts Edgar Schmidt trifft in Rostock nur den Pfosten, Stuttgarts Manfred Kastl statt im selben nur Aluminium. Der VfB läuft weiter: Ludwig Kögl flankt, Guido Buchwald wirbelt in die Luft, köpft den Ball in der 86. Minute ins Netz und trifft den von Ottmar Hitzfeld trainierten BVB mitten ins Herz. Alles sieht nach einem schwäbischen Streich aus, da erreicht das Frankfurter Drama im Osten ein nie dagewesenes Ausmaß. Ralf Weber wird im Hansa-Strafraum deutlich regelwidrig zu Fall gebracht, der Pfiff von Schiedsrichter Alfons Berg bleibt stumm. Statt Elfmeter und Meisterschaft kassierte die Eintracht im Gegenzug das 1:2 – Stuttgart feierte seinen vierten Meistertitel, Frankfurt spuckt Gift und Galle. Nur Stepanovic bleibt ruhig. „Lebbe geht“, sagt „Steppi“. Punkt.
Saison 1994/95 – Die Bayern verpatzten König Ottos dritte Bremer Krönung
In der Saison 1994/95 lieferten sich Werder Bremen und Borussia Dortmund ein spannendes Duell um den Pokal. Die Werder-Mannschaft von Otto Rehhagel liegt vor dem letzten Spieltag einen Punkt vor der Dortmunder Hitzfeld-Mannschaft. Allerdings muss der SVW weiterhin beim großen FC Bayern antreten, während der BVB im Westfalenstadion den in dieser Saison farblosen Hamburger SV empfängt. Pikant: Es ist Rehhagels letztes Spiel als Bremer Trainer, der an der Weser als „König Otto“ verehrte Fußballtrainer wechselt ausgerechnet zum FC Bayern. Im Olympiastadion vermasselte sein zukünftiger Spieler Rehhagel mit Werder die dritte Meisterschaft (nach 1987/88 und 1992/93). Bremen geht mit 1:3 ins Schwimmen. In Dortmund hingegen bringt Andreas Möller den BVB mit einem magischen Freistoß auf Kurs, am Ende steht es 2:0. Der schwarz-gelbe Teil des Potts explodiert, Dortmund wird erstmals seit 1957 wieder Meister.
Saison 1999/2000 – Bayer Leverkusens Waterloo in Unterhaching
Unterhaching – ein Vorort von München ist Schauplatz der dunkelsten Stunde von Bayer Leverkusen im Jahr 2000. Vor dem letzten Spieltag der Saison sieht alles nach dem ersten Leverkusener Meistertitel aus. Die „Werkself“ von Trainer-Guru Christoph Daum geht mit einem Vorsprung von drei Punkten vor den Bayern in Richtung Süden, ein Punkt in der Spielvereinigung reicht. Die Münchner empfangen ein paar Kilometer entfernt Werder Bremen – und hoffen auf ein Fußballwunder. Im Falle einer Bayer-Pleite würde das bessere Torverhältnis die Hitzfeld-Mannschaft bei einem Sieg gegen Werder zum Meister machen.
Leverkusen wirkt im Unterhachinger Sportpark wie von Angst geplagt, Michael Ballack leitet mit einem Eigentor nach 20 Minuten das Desaster ein. Unterdessen geraten die Bayern in Aufregung, führen zur Halbzeit mit 3:1 – und können kaum glauben, was sie von „Haching“ hören. Nach der Pause behauptet der FCB die Führung, Leverkusen schafft es nicht, sich zusammenzureißen. Bayer kassierte in der 72. Minute das 0:2 und stürzte ins Tal der Tränen.
Saison 2000/2001 – Meister der Herzen ist nicht immer Meister
An Dramatik ist der 33. Spieltag im Jahr 2001 kaum zu überbieten. Tabellenführer Schalke 04 (59 Punkte vor Anpfiff) erstickt in Stuttgart an einem scheinbar wertvollen 0:0, denn Verfolger Bayern München (59 Punkte vor Anpfiff, aber schlechtere Torbilanz) kam zu Hause nur zu einem 1:1-Unentschieden Kaiserslautern. Doch dann kommt die 90. Minute, das Meisterblatt wendet sich innerhalb weniger Sekunden. Krassimir Balakow schießt die „Königsblauen“ nieder, Hitzfeld-Joker Alexander Zickler knallt die Bayern mit einem Volley-Hammer zum Sieg. Ein Punkt beim HSV reicht den Münchnern am letzten Spieltag zum dritten Titel in Folge, S04 muss zu Hause gegen den Absteiger SpVgg Unterhaching gewinnen.
Zunächst sieht es so aus, als würden die Hachinger wieder die Edelhelfer für ihren großen Nachbarn spielen. Die Truppe von Lorenz-Günther Köstner geht mit 2:0 und 3:2 in Führung, bevor sich die „Knappen“ von Huub Stevens zusammenreißen, die Partie drehen und mit 5:3 gewinnen. Schluss für Schalke. Unterdessen hielten die einfallslosen Bayern im Hamburger Volkspark das titelgewinnende 0:0, sehnten den Schlusspfiff herbei – und wurden wie Schalke am Vorspieltag in der 90. Minute hart bestraft. Sergej Barbarez setzt den Münchner Meister-Knockout per Kopf. So scheint es, so kommt es auf Schalke an, wo plötzlich alle Dämme brechen.
Ein Fernsehreporter bestätigte Schalke fälschlicherweise, dass in Hamburg Schluss sei, S04 habe die Hülle sicher. Manager Rudi Assauer jubelt wie zehntausend andere in Blau-Weiß. Doch dann merken sie in Gelsenkirchen, dass das Bayern-Spiel noch läuft und starren gebannt auf die große Leinwand im Parkstadion. Bis heute können die Schalker nicht glauben, was sie sehen: wie Bayern-Torhüter Oliver Kahn seine Männer anbrüllt („Mach weiter, mach weiter!“). Wie HSV-Torwart Matthias Schober (von Schalke ausgeliehen) einen vermeintlichen Rückpass mit der Hand auffängt und Schiedsrichter Markus Merk einen indirekten Freistoß pfeift. Wie der Schwede Patrick Andersson die Pille irgendwie durch die vielen Schenkel der Hamburger Mauer ins Netz hämmerte. Als am Ende die Bayern noch einmal jubeln, reckt Kahn die Schale in den Himmel und ruft: „Da ist sie!“ Schalke ist erst nach vier Minuten Meister. Meister der Herzen, aber nichts weiter.