Natürlich haben beide am Ende geweint. Als der Franzose Arthur Rinderknech die Pflichtrede des unterlegenen Finalisten halten sollte, brach er aus. „Ich freue mich so für dich“, sagte er und richtete seine Stimme kurz wieder auf den Sieger, „und ich hoffe, dass wir gemeinsam noch mehr erleben dürfen.“ Nun kommt es im edlen Tennis nicht mehr selten zu Randalen, wenn die Siegerehrung stattfindet. Aber die Tränen der Verliererin waren so rührend, weil sie vor Freude flossen. Schließlich sprach Rinderknech nicht nur mit seinem Gegner. Aber auch zu seinem – und verzeihen Sie mir, Sie müssen es auf Französisch schreiben –“Cousin d’amour„, also an seinen lieben Cousin Valentin Vacherot, der ihn gerade beim Masters-Turnier in gesehen hatte Shanghai hatte besiegt.
Allein diese Familiengeschichte würde ausreichen, um in den Sportrückblicken des Jahres zu erscheinen. Aber es gibt noch mehr: Der Monegasse Vacherot (26 Jahre) reiste als Nummer 204 der Weltrangliste nach Shanghai. Noch nie hat jemand, der in der Weltrangliste so weit unten steht, ein Profiturnier gewonnen. 2022 spielte er für den TV Reutlingen in der 2. Bundesliga.
Er reiste unter Verdacht nach Shanghai
Vacherot bekam seinen Platz in der Qualifikation für das Turnier nur, weil andere absagten. Dort gewann er zwei Drei-Satz-Matches. Dann das eigentliche Turnier. In seiner gesamten Karriere hatte er nur ein Spiel gewonnen, als er es ins Hauptfeld eines ATP-Turniers schaffte. Nun sind es sieben weitere Siege.
Auf dem Weg ins Finale eliminierte er den Dänen Holger Rune (Nummer elf der Welt) und Novak Đoković (Nummer eins in so ziemlich allem). Sein Cousin Rinderknech hatte unter anderem Alexander Zverev und den ehemaligen Weltranglistenersten Daniil Medvedev besiegt. Nach dem Halbfinalsieg über Medvedev, der den Traum vom Finale perfekt machte, stürmte Vacherot auf das Feld und umarmte seinen Cousin lange. „Im Finale wird es keinen Verlierer geben“, sagten sie.
Der Jüngere, der Außenseiter, war der Erste, der da wackelte. Vacherot gab ein frühes Aufschlagspiel auf. Rinderknech blieb ruhig, servierte seinen Aufschlag und holte sich den ersten Satz. Aber der Rückstand schien Vacherot zu helfen. Frei von jeglichen Erwartungen ärgerte er seinen Cousin mit mutigen Rückhänden und war bei seinem eigenen Aufschlag äußerst effizient. Von da an spielte er, wie schon während des gesamten Turniers, mit dem Mut eines Menschen, der nichts zu verlieren hat. Das ließ er sich nicht mehr entgehen: Am Ende stand es 4:6, 6:3 und 6:3.
Es gibt neun Masters-Turniere pro Saison. Nach den vier Grand Slams sind sie die wichtigsten auf der Tour, weil man mit ihnen die meisten Weltranglistenpunkte und das meiste Preisgeld gewinnen kann. Da statt fünf nur drei Gewinnsätze gespielt werden, gewinnt dort immer ein Außenseiter. Doch dass zwei von ihnen im Jahr 2025 ein Finale bestreiten würden, schien ausgeschlossen. Im Herrentennis herrschte lediglich die Befürchtung, dass sich der Spanier Carlos Alcaraz (in Shanghai verletzungsbedingt nicht angetreten) und der Italiener Jannik Sinner in den nächsten Jahren die Turniersiege aufteilen würden. Im Verlauf des Turniers befeuerte Zverev sogar eine Debatte über Turnierdirektoren, die langsame Plätze nutzen würden, um sicherzustellen, dass Sinner und Alcaraz immer im Finale stehen.
Dann kam diese Familie aus Frankreich auf die Bühne.