💡 Peter Jungblut beobachtet für BR24 Kultur die Debatten hinter den Berichten rund um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er verfolgt russische Medien, Telegram-Kanäle und soziale Medien und wertet die dortigen Einschätzungen/Stimmen journalistisch aus und ordnet sie ein. So zeigen wir, wie Millionen Menschen im russischsprachigen Raum über die Ereignisse diskutieren.
„So können wir nicht gewinnen, oder besser gesagt: es ist möglich, aber nur zu einem hohen Preis. Deshalb muss dringend etwas getan werden“, schrieb der prominente russische Militärblogger Juri Podoljak (3,1 Millionen Fans) wütend nach dem Tod von vier sehr beliebten russischen Drohnenpiloten. Die „übertrieben neugierigen“ IT-Spezialisten sollen von ihrem Kommandeur auf einen aussichtslosen Kampfeinsatz geschickt worden sein, um sie loszuwerden. In einem eigens vorbereiteten „Abschiedsvideo“ behauptete einer der gefallenen Soldaten, sein Vorgesetzter sei „inkompetent und in kriminelle Aktivitäten verwickelt“ gewesen, darunter Drogenhandel und Veruntreuung von Hilfslieferungen.
„Ich bin für Disziplin“
Der Fall hat so viel Aufsehen erregt, dass sich Russlands Verteidigungsminister Andrej Beloussow genötigt sah, den Generalstab mit der Untersuchung der Angelegenheit zu beauftragen: „Leider war es der Aufruhr in den Telegram-Kanälen nach dem Tod der Soldaten, der zu einem der Hauptgründe für diese Reaktion an der politischen Spitze wurde“, so die führenden russischen Militärblogger, die sich über die angebliche Strafaktion empören: „Ich bin für Disziplin. Aber Disziplin darf nicht mit Tyrannei verwechselt werden. Disziplin führt zum Sieg, Tyrannei führt zur Niederlage“, so Podoljak.
Andere Blogger mit Millionen von Followern stellten fest, dass es in der russischen Armee zwei Extreme gebe: Kommandeure, die sich penibel an alle Regeln hielten, und solche, die nur das „Gesetz des Dschungels“ akzeptierten. „Es gibt Situationen, in denen die eigene Position erschüttert wird, wo einem buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird, das eigene Weltbild zu bröckeln beginnt“, sagte Blogger Chadaev (65.000 Fans) über den Skandal. Er flehte seine Landsleute an, deswegen nicht zu „Berserkern“ zu werden.
Die hitzige Debatte um willkürliche Kommandeure und vergebliche Angriffe erinnert sehr an den Antikriegsfilm „Wege zum Ruhm“, den der damals 29-jährige Stanley Kubrick 1957 mit Kirk Douglas in der Hauptrolle drehte. Darin meutern französische Soldaten gegen autokratische Generäle. Ausgerechnet der russische Regimentskommandeur Igor Puschik, der jetzt im Fokus der Empörung steht, trägt den Nom de guerre „Bösewicht“, als hätte Hollywood das Drehbuch zu diesem Skandal beigesteuert.
„Dummheit, Faulheit, Verantwortungslosigkeit“
„Um zu verhindern, dass solche Abschiedsvideos gedreht werden, gehen sie in der Armee gegen Handys vor“, sagte Blogger Oleg Tsarow (340.000 Fans) sarkastisch. Mit beißender Ironie schrieb er: „In Japan gab es früher einen seltsamen Brauch: Ein Samurai ging zum Haus seines Feindes, um vor der Tür Seppuku (Harakiri) zu begehen. Ein solch demonstrativer Tod vor der eigenen Tür galt als sehr schwere Beleidigung und als angemessene Rache, um einen Feind über den Tod hinaus zu demütigen.“
Angesichts der „Dummheit, Trägheit, Tyrannei und Verantwortungslosigkeit“ in der russischen Armee seien die Drohnenpiloten „bewusst und logisch für die gemeinsame Sache in den Tod gegangen“. Tsarow nannte sie „Helden unserer Zeit“, eine Anspielung auf den Roman „Ein Held unserer Zeit“ von Michail Lermontow (1814 – 1841), in dem die fatalistische und zutiefst pessimistische Titelfigur trotz aller Zweifel Heldentum zeigt.
„Losgelöst von der modernen Realität des Kampfes“
Bemerkenswert ist, dass selbst sonst eher parteitreue Blogger wie Semyon Pegov („Wargonzo“, 1 Mio. Abonnenten) von „schmerzhaften Fragen“ sprechen, die nach dem Tod der Drohnenpiloten nun beantwortet werden müssten. TV-Propagandist Alexander „Sasha“ Kots (626.000 Fans) nannte die „bloße Tatsache“, dass Drohnenspezialisten zur Infanterie versetzt worden seien, gelinde gesagt „Sabotage“: „Das bedeutet nichts anderes, als dass man in manchen Einheiten noch im letzten Jahrhundert lebt und von der modernen Kampfrealität sehr weit entfernt ist.“
„Offensichtlich kriminelle Praxis“
Von einem „Augeischen Stall“ war die Rede, den es auszumisten gelte: „Generell ist die offenkundig kriminelle Praxis, wertvolle Spezialisten in die Sturminfanterie zu stecken, grundsätzlich ein systemisches Problem, sowohl aufgrund des Personalmangels als auch aufgrund persönlicher Inkompetenz der Kommandeure in der aktiven Armee. Gleiches gilt für Angriffe, die kurzfristig und ungeplant durchgeführt werden müssen, auch infolge falscher Aufklärungsdaten“, so Kommentator Swatoslav Golikov.