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Stichwahl in Bolivien – Was kommt nach dem Sozialismus?

Stand: 19. Oktober 2025 11:37 Uhr

In der Stichwahl um die Präsidentschaft in Bolivien stehen sich heute zwei Konservative gegenüber. Die Ära des Sozialismus scheint vorerst vorbei zu sein. Die Herausforderungen für den neuen Präsidenten sind enorm.

Von Anne Herrberg und Nadia Arze, ARD Rio de Janeiro

Es ist ein Wahlkampf mit Trommeln und Panflöten, mit Ponchos und bunten Röcken. „Lang lebe El Alto“, ruft Rodrigo Paz von der Christlich-Demokratischen Partei der hier versammelten Menge zu. „Wir werden uns nie wieder den Machthabern beugen. Nicht den Rassisten oder denen, die nicht akzeptieren, dass Bolivien vielfältig ist.“

El Alto ist eine zu einem Moloch herangewachsene Arbeiterstadt mit staubigen Straßen und lebhaften Märkten, hoch über der Hauptstadt La Paz, auf einer Höhe von 4.000 Metern gelegen. Hier leben zwei Millionen Menschen: informelle Arbeiter, Migranten aus dem ländlichen Bolivien, viele von ihnen sind indigene Aymara.

Wer in Bolivien Wahlen gewinnen will, muss El Alto überzeugen. Bisher galt die Stadt als Hochburg der linken „Bewegung zum Sozialismus“, der MAS. Viele Menschen assoziieren seinen Gründer Evo Morales, den ersten indigenen Präsidenten Boliviens, mit sozialem Aufstieg.

Niederlage der Sozialisten im ersten Wahlgang

Aber das ist vorbei, sagt Shirley Gutierrez, eine Cholita, wie die indigenen Frauen in bunten Röcken und schwarzen Melonen genannt werden. „Ich habe anfangs für die MAS gestimmt, weil sie uns hier unterstützt haben, es gab weniger Rassismus. Aber jetzt geht es uns immer schlechter, die Politik funktioniert nicht mehr für die Menschen. Mit dem wenigen Geld, das man hat, kann man kaum noch etwas kaufen“, sagt der 34-Jährige.

Die Sozialisten erlitten im ersten Wahlgang im August eine vernichtende Niederlage. Denn Bolivien steckt in einer tiefen Krise: Die Staatskasse ist leer, den Tankstellen geht das Benzin aus, die Preise steigen.

Dies betrifft insbesondere die Menschen in El Alto; Viele arbeiten als kleine Händler auf Straßenmärkten. Dort finden Sie Gemüse, Werkzeuge, Autoreifen, Second-Hand-Kleidung und Spielzeug aus China. Neu, gebraucht, geschmuggelt – nichts, was es nicht gibt. Shirley Gutierrez verkauft Maiskuchen und zieht allein zwei Kinder groß.

„Kapitalismus für alle!“

Wie 60 Prozent der Einwohner von El Alto stimmte sie für Rodrigo Paz: „Kapitalismus für alle! Dieses Konzept wurde hier in El Alto geboren!

Paz, 57, kommt eigentlich aus dem südlichen Tiefland, weit weg von El Alto. Er galt als rechtsextrem. Doch im Wahlkampf reiste er durch das Land und präsentierte sich als volksnaher Kandidat der Mitte. Er diente als Stellvertreter von Kapitän Edman Lara, einem ehemaligen Polizeihauptmann, der sich in sozialen Netzwerken erfolgreich als Kämpfer gegen Korruption porträtierte.

Auch die Stimmung auf den Straßen von El Alto spiegelt dies wider. Kleinhändler Franz Pacheco sagt: „Wir müssen für Rodrigo, den Kapitän, stimmen, weil wir eine neue Person wollen, die dieses Land voranbringt. Er hat einen neuen Regierungsplan, nicht wie die traditionellen der Vergangenheit. Wir wollen etwas Neues. Wir haben die Korruption satt.“

Jorge „Tuto“ Quiroga war kurzzeitig Präsident Boliviens – und liegt nun in den Umfragen an der Spitze.

Stichwahl mit einem anderen Wirtschaftsliberale

Neben Paz gibt es in der Stichwahl noch einen weiteren Kandidaten, der eine Abkehr vom Sozialismus verspricht: Jorge „Tuto“ Quiroga, der allerdings kein Unbekannter ist: Er war von 2001 bis 2002 kurzzeitig Präsident und gilt vielen als klassischer Kandidat des wirtschaftsliberalen Establishments.

Zu Beginn des Wahlkampfs wollte er die Wirtschaft mit der Kettensäge heilen und spielte damit auf die Symbolik des libertären argentinischen Präsidenten Javier Milei an. Der Währungsfonds soll für frische Dollarkredite sorgen.

Inzwischen schlägt Quiroga aber auch einen gemäßigteren Ton an: „Wir geben Ihnen die Sicherheit, dass Ihre Kranken versorgt werden, Ihre Kinder eine Ausbildung erhalten und Ihre Sicherheit gewährleistet ist. Wir werden die Warteschlangen an den Tankstellen und die Preiserhöhungen beenden. Aber dafür müssen wir Dollars ins Land bringen, und die kommen nicht von alleine.“

Quiroga liegt in den Umfragen vorne

In den Umfragen liegt Quiroga mit zehn Prozentpunkten vor Paz. Aber man muss bei Umfragen in Bolivien vorsichtig sein. Sie hatten den überraschenden Erfolg von Paz im ersten Wahlgang nicht vorhergesehen.

Und Leute wie Shirley Gutierrez aus El Alto misstrauen den Meinungsforschungsinstituten ebenso wie der Politik von Jorge „Tuto“ Quiroga: „Zwischen den beiden, die in der Stichwahl stehen, ist Paz besser, denn mit dem anderen, mit Tuto, kommt der Kapitalismus für die Eliten zurück. Und der Rassismus.“

Die Herausforderungen für den neuen Präsidenten sind enorm. In Bolivien mangelt es an Treibstoff, der teuer aus dem Ausland importiert werden muss. Doch die Staatskasse ist leer und die Preise sind gestiegen. Aber die Menschen erwarten schnelle Lösungen.

Eine neue Regierung muss auch einen Weg finden, mit dem immer noch einflussreichen ehemaligen Präsidenten Evo Morales umzugehen. Er hält sich in der Kokaanbauregion Chapare auf – und hatte im Vorfeld der Wahlen immer wieder damit gedroht, seine Anhänger zu mobilisieren, falls rechte Kandidaten die Wahlen gewinnen würden.

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