Bei der Landtagswahl in Brandenburg setzte sich die SPD knapp gegen die AfD durch, während Wagenknechts Partei vor der CDU lag. Der Hauptgrund dafür ist, dass im Vergleich zu 2019 240.000 Menschen mehr ihre Stimme abgegeben haben.
In Brandenburg gibt es 2,1 Millionen Wahlberechtigte. Von ihnen wählten am Sonntag 72,9 Prozent den neuen Landtag – ein Rekordwert in diesem Bundesland und ausschlaggebend für den erneuten Sieg von Ministerpräsident Dietmar Woidke. Die bisherigen Nichtwähler haben dem Amtsinhaber damit weitgehend den Job gerettet.
Im Hinblick auf die Wählerwanderung fallen drei weitere Aspekte auf. Erstens hat sich wieder einmal gezeigt, dass es in Ostdeutschland kaum Parteibindung gibt. Zweitens greifen die Erklärungen der CDU-Führung für die massive Wahlniederlage zu kurz. Drittens sorgte Woidkes Kampagne, ihn ins Amt zu holen, um einen Wahlsieg der AfD zu verhindern, dafür, dass die Grünen aus dem Landtag flogen.
Im Vergleich zur Landtagswahl 2019 gingen diesmal 240.000 Menschen mehr an die Urne. 51.000 von ihnen wählten Woidkes Sozialdemokraten. Sie sind die Gruppe, die dem Amtsinhaber den größten Stimmenzuwachs bescherte. Dicht dahinter folgen die Grünen. Sie verloren 47.000 Wähler an Woidke, während sie bei den anderen Parteien so gut wie keinen Zuwachs verzeichneten.
Nichtwähler drängen auf die AfD
Noch stärker profitierte allerdings die AfD von der Rekordwahlbeteiligung. Ihren Stimmenzuwachs verdankt sie vor allem 79.000 bisherigen Nichtwählern. Im Vergleich dazu fällt der Zuwachs anderer Parteien weniger deutlich aus. Einzig die CDU konnte der teils rechtsradikalen AfD mit 21.000 Wählern nennenswerte Stimmenanteile abnehmen.
Nicht nur diesen Umstand ignorierte die Führung der Christdemokraten in ihren Erklärungen für das historisch schlechte Ergebnis am Wahlabend. Woidkes Wahlkampf habe auch CDU-Wähler angesprochen, sagte Generalsekretär Carsten Linnemann in einer Stellungnahme zum Abschneiden seiner Partei. Sie hätten gegen ihre parteipolitische Präferenz die SPD und damit Woidke gewählt, um einen Wahlsieg der AfD zu verhindern.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Im Vergleich zu 2019 wechselten lediglich 13.000 CDU-Wähler zu den Sozialdemokraten. Die Christdemokraten konnten diese Zahl mit lediglich 12.000 bisherigen Nichtwählern weitgehend kompensieren.
Weitaus bedeutsamer sind die 14.000 CDU-Wähler, die zuvor Wagenknechts Partei wählten, und die 21.000, die zur AfD übergelaufen sind. Die CDU, die wenige Tage zuvor Friedrich Merz zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2025 gekürt hatte, verlor in Brandenburg 35.000 Wähler an links- und rechtspopulistische Parteien. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum sie im Potsdamer Landtag nun die kleinste Fraktion stellen wird.
Wagenknecht-Partei erhält Stimmen von allen Seiten
Auch das ist für die Christdemokraten Teil der Brandenburger Wahlwahrheit: Sie liegen noch immer hinter der Wagenknecht-Partei. Wie wankelmütig die Wähler in Ostdeutschland sind, zeigt ein Blick darauf, wer dieses Anfang des Jahres gegründete und erstmals angetretene Bündnis gewählt hat. Wagenknechts 13 Prozent setzten sich zum Großteil aus ehemaligen Wählern der Linkspartei (44.000) und bisherigen Nichtwählern (41.000) zusammen. Doch zugleich erhielt die Partei auch Stimmen von der SPD (26.000), der AfD (16.000), der CDU (14.000), den Freien Wählern (12.000) und den Grünen (5.000). Brandenburger, die vor fünf Jahren noch Rechtspopulisten, Sozialdemokraten oder Konservative gewählt hatten, wählten diesmal die postkommunistische Wagenknecht.
Neben einigen Besonderheiten bei der Wählerwanderung fallen auch andere Aspekte der Brandenburger Wahl auf. So zeigte sich, dass Umfragen allenfalls Momentaufnahmen sind. Im September vor einem Jahr lag die AfD noch 12 Prozentpunkte vor der SPD. Im Juli dieses Jahres sahen die Meinungsforscher SPD (19 Prozent) und CDU (18 Prozent) fast gleichauf, während die AfD (23 Prozent) mit einem deutlich geringeren Vorsprung noch vorne lag.
Am Ende siegte jedoch die SPD mit 31 Prozent vor der AfD mit 29 Prozent, während die CDU nur auf 12 Prozent kam. Ausschlaggebend waren der ausschließlich auf Woidke fokussierte Wahlkampf der SPD („Entweder ich bin die Nummer eins, oder ich bin weg“) und die Bemühungen vieler Brandenburger, einen Sieg der AfD zu verhindern. Das belegen auch die Zahlen, die das Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap am Wahltag erhoben hat. Demnach gaben 75 Prozent der SPD-Wähler an, sie seien von den Sozialdemokraten nicht überzeugt, hätten sie aber gewählt, um eine starke AfD zu verhindern. Zudem gab gut die Hälfte von ihnen an, sie würden ohne Dietmar Woidke nicht die SPD wählen.
Ist die soziale Sicherheit das entscheidende Thema?
Am Tag nach der Wahl herrschte Unklarheit darüber, welche Themen die Wahlentscheidung am meisten beeinflussten. Laut Infratest Dimap in der ARD spielte die soziale Sicherheit die größte Rolle (20 Prozent), dicht gefolgt von der wirtschaftlichen Entwicklung (19 Prozent). Auf Platz zwei landete die Einwanderung (17 Prozent), während die Ukraine- und Russland-Themen bei der Wahlentscheidung nur eine untergeordnete Rolle spielten. Kurz vor der Wahl war laut Infratest Dimap das Thema Migration für die Wähler mit Abstand das wichtigste Thema. Das bestätigte eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen am Sonntag.
Die Sorge um die wirtschaftliche und soziale Zukunft ist offenbar der Hauptgrund, warum gut 45 Prozent der Brandenburger Parteien links und rechts wählen. Das zeigt auch die Wählerbefragung von Infratest Dimap. Demnach sind es die Wähler der AfD und der Wagenknecht-Partei, die sich am meisten Sorgen um ihren Lebensstandard machen. Anders gesagt: Vor allem Brandenburger ohne Zukunftsangst haben Sozialdemokraten und Christdemokraten gewählt, die anderen tendieren eher zum radikalen Lager.
Sollte dieser Befund zutreffen, dann müssen den „etablierten“ Parteien zwei weitere Ergebnisse der Wählerbefragung Sorgen bereiten. Erstens erhielten AfD und Wagenknechts Partei unter den Erstwählern in Brandenburg zusammen 44 Prozent der Stimmen. Damit sieht offenbar fast die Hälfte der jungen Menschen in diesem Bundesland keine gute Zukunft mehr. In Brandenburg durften in diesem Jahr erstmals Menschen ab 16 Jahren wählen.
Woidke und die SPD haben dagegen vor allem unter den Älteren eine Fangemeinde. Die Hälfte der über 70-jährigen Brandenburger wählte den Ministerpräsidenten und seine Partei. Zum Vergleich: In Brandenburg leben derzeit rund 244.000 Menschen, die über 70 Jahre alt sind, und rund 176.800 zwischen 20 und 29 Jahren.