Um zu verstehen, wie die SPD sich gerade verändert hat, müssen wir uns zunächst daran erinnern, wie diese Partei in den letzten 20 Jahren funktioniert hat: Nach 2005 war die SPD eine Als-ob-Partei, eine Volkspartei im Konjunktiv. Sie landete bei Bundestagswahlen durchweg nur bei 20 bis 25 Prozent, vertrat aber das Selbstverständnis, als wäre sie immer noch eine 40-Prozent-Partei. Der Wahlausgang könnte immer wieder ernüchternd ausfallen, da die Sozialdemokraten stets das Gefühl hatten, nur noch einen Schritt von der alten, angemessenen Größe entfernt zu sein. Manchmal stand angeblich die Agenda 2010 im Weg, manchmal der falsche Kandidat.
Seit 2008 streitet die SPD nur deshalb heftiger und häufiger als jede andere Partei um ihre Spitzenkandidaten, weil sie von jedem dieser Kandidaten nichts Geringeres als die Erlösung erwartet. Und als sie 2021 zum einzigen Mal gewannen, mit nur 25,7 Prozent und dank eines verpatzten CDU-Wahlkampfs, brüllte der Parteichef Lars Klingbeil kommt einem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ gleich.
Die Umstände sind schuld
Worum ging es in diesem Größenwahn, warum in diesen Beschwörungen? Es war und ist klar, dass sie nicht erfüllt werden. „Eine Rückkehr zu 30 bis 40 Prozent wird es für keine sozialdemokratische Partei in Europa geben“, sagt beispielsweise die Schweizer Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann, die seit Jahren zur Sozialdemokratie forscht, kategorisch. Das alte Wählermilleu hat sich aufgelöst und aus drei bis vier Parteien sind sechs bis sieben geworden. Für den Niedergang der SPD sind in erster Linie die Umstände verantwortlich, nicht die Partei selbst.
Was wie eine entlastende Nachricht klingt, ist in Wirklichkeit eine schlechte Nachricht für die Partei: Sie kann wenig gegen ihren Niedergang tun, aber sie darf ihn sich nicht anmerken lassen. Denn „die Einsicht in die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse wirkt entmächtigend“, schrieb Christoph Möllers 2021 Quecksilber Über die SPD. „Politische Parteien können kaum aufhören zu arbeiten, weil sie sowieso ihre Wählerschaft verlieren werden. Sie müssen.“ Schlacht.“
Dieses Wort bringt uns in die Gegenwart. Denn „kämpfen“ ist offenbar der einzige Begriff, mit dem sich die SPD nun unbedingt identifizieren will.
Bei der „Wahlsiegkonferenz“ (ebenfalls eine Selbstbeschwörung) an diesem Samstag fiel in den Reden der Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken kein Wort mehr. Fast sinnlich flüsterte Klingbeil von einem „harten Ritt“, der den Wahlkämpfern bevorstehe, zwischen den Zeilen drängte sich das Pathos der Opferbereitschaft auf. Kanzler Olaf Scholz beendete seine Rede mit dem Satz: „Wenn wir kämpfen, werden wir gewinnen.“ Engagement und Erfolg gehen hier Hand in Hand; Die Anstrengung selbst wird zum Wesen der Politik.
Auch die SPD baut ihren Wahlkampf so auf: „Wir kämpfen für Ihre Sicherheit“, steht auf einem der Bilder, auf anderen geht es um den Kampf für Wohlstand, Familie, Freiheit oder „Sie“. Im Hintergrund weht eine Deutschlandfahne mit einem besonders dicken roten Streifen.
Wie unter anderem die Jusos NRW, deren zehntausende Mitglieder die Partei bilden Wahlkampf Während sie die Verwendung der Flagge auf Instagram kritisierten, reagierte die Parteizentrale bemerkenswert: Sie bekannte sich nicht zu starken deutschpatriotischen Gefühlen. Das wäre zumindest eine Art neuer emotionaler Horizont. Sie argumentierte vielmehr, „dass unsere Partei auf allen Ebenen“, also vom Bürgermeister bis zum Kanzler, Verantwortung trage, was zeige, „wie sehr wir uns für dieses Land und unser Volk einsetzen“. Es ist ein Zirkelschluss, der ähnlich funktioniert wie der „Kampf“-Satz von Scholz: Weil wir Verantwortung haben, haben wir sie verdient, und darauf sind wir stolz. Die Partei hat sich in ihre staatstragende Rolle gehüllt, so wie sich ihr Wahlkampf in die deutsche Flagge gehüllt hat.