Stuttgart/Waiblingen. Ein internationales Online-Netzwerk namens 764 soll Kinder und Jugendliche zu Selbstverletzung und Selbstmord anstiften und sie sexuell missbrauchen. Auch in Baden-Württemberg laufen Ermittlungen. Was ist über die sadistischen Täter und ihr Umfeld bekannt – und über ihre grausamen Taten?
Warnung: Der folgende Artikel enthält Beschreibungen schwerster Gewalt und thematisiert Kindesmissbrauch und Selbstmord. Wir haben uns entschieden, diese Fälle anzugehen, damit mögliche Gefahren schneller erkannt und richtig eingestuft werden können. Die Beratungsstelle bei sexueller Gewalt erreichen Sie unter 0800 2255 530. Hilfe bei Suizidgedanken erhalten Sie unter 0800 111 0 111 oder unter https://www.telefonseelsorge.de/
Was ist das 764-Netzwerk?
Das 764 Network ist eine internationale kriminelle Gruppe, die in den Vereinigten Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. Der Name leitet sich von der Postleitzahl von Stephenville, Texas ab, wo es 2021 von einem 15-jährigen Schulabbrecher gegründet wurde. Im Wesentlichen geht es den Mitgliedern von 764 darum, über Online-Dienste wie Discord, Roblox oder Telegram schutzbedürftige Kinder und Jugendliche zu sexuellen, selbstverletzenden Handlungen zu ermutigen und vor anderen damit zu prahlen – bis hin zum Selbstmord vor der Kamera.
Im Fall 764 sprechen Experten häufig von einem „Sextortion“-Netzwerk. Dies bezieht sich auf die Vorgehensweise und mögliche Motivation der Gruppe: Unter dem Begriff „Erpressung“ fasst der Terrorismusforscher Marc-André Argentino Gruppen zusammen, die ein Vertrauensverhältnis zu ihren Opfern aufbauen, um dieses Vertrauen später für Manipulation und Erpressung zu missbrauchen. Den Tätern geht es um die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Sind diese Bedürfnisse sexueller Natur, spricht man von „Sextortion“. Auch das Machtgefühl und eine nihilistische Weltanschauung spielen laut den Extremismusexperten von „CeMAS“ eine Rolle.
Der Fall „Weißer Tiger“: toter Junge als Trophäe
Der bekannteste Fall: „White Tiger“. Im Sommer 2022 fanden laut „Spiegel“ zwei FBI-Agenten heraus, dass ein Hamburger Gymnasiast im Internet gezielt nach instabilen Kindern gesucht hatte, um sie zu manipulieren. „Nach Angaben der Ermittler mussten die Opfer seinen Namen in ihre Haut eingravieren, ätzende Flüssigkeit in ihre Wunden schütten und ihre Genitalien verletzen.“ Er soll einen 13-Jährigen aus den USA vor laufender Kamera in den Selbstmord getrieben haben. Nach Angaben der Washington Post gilt dies unter 764 Mitgliedern als „ultimative Trophäe“.
Erste Hinweise auf den heute 21-Jährigen, der im Internet unter dem Pseudonym „Weißer Tiger“ auftrat, tauchten laut „Zeit“ im Jahr 2021 auf. Zwischenzeitlich sei er sogar von der Polizei vernommen und durchsucht worden. Bis zur Festnahme im Juni 2025 vergingen fast vier Jahre – denn die Bedeutung des Falles wurde den Ermittlern erst langsam klar und die Auswertung der Beweise dauerte lange. Der „Spiegel“ schreibt: „Zusätzlich zu den Beweisen für die Gewalttaten ergaben sich bei der Datenauswertung Anleitungen für Bombenanschläge und Terroranschläge.“
Mordanklage: Mehr als 30 potenzielle Opfer
Mittlerweile wurden mehr als 30 mutmaßliche Opfer des Deutsch-Iraners identifiziert und Anklage gegen ihn erhoben. Ihm werden mehr als 200 Straftaten vorgeworfen, darunter die Ermordung des 13-Jährigen aus den USA sowie versuchter Mord in fünf weiteren Fällen. Alle mutmaßlichen Opfer waren minderjährig. Der 21-Jährige bestreitet die Vorwürfe.
„Terrorwoche“: Selbstverletzung und blutiges Schreiben
„White Tiger“ gilt als einer der Drahtzieher von 764. Doch nach den Erkenntnissen über das Netzwerk ist er kein Einzeltäter. Das Netzwerk scheint auch nach seiner Verhaftung aktiv zu bleiben. Das zeigen nicht zuletzt Recherchen unserer Redaktion.
Anfang September riefen mutmaßliche Mitglieder in einem nicht mehr öffentlich zugänglichen Telegram-Kanal eine „Terrorwoche“ aus. Auf den Bildern und Videos, die uns vorliegen, sind Selbstverletzungen zu sehen – und Schriftzüge, die mit Blut auf Wände und Papier gemalt zu sein scheinen. Neben der Zahlenfolge „764“ gibt es Online-Benutzernamen, teilweise mit dem Zusatz „Ich gehöre dazu“. Es handelt sich um die Benutzernamen mutmaßlicher Täter. Die Aufnahmen sind schwer zu ertragen. Wir zeigen sie nicht.
Vorbilder, Nachahmer, Verbündete: 764 im Netzwerk „Com“.
Nach Angaben der Ermittler steht „764“ in der Tradition ähnlicher Gruppen und hat verschiedene neue Gruppen „inspiriert“. Als direktes Vorbild gilt das Netzwerk „CVLT“, das auch Kinder zu erniedrigenden Handlungen und Selbstverletzungen zwang. Es gibt Verbindungen zu Gruppen wie „No Lives Matter“, die zu schwersten Gewalttaten gegen das Leben aufrufen, zu satanischen rechtsterroristischen Gruppen wie dem „Order of Nine Angels“ oder dem „Maniac Murder Cult“ – und es kommen ständig neue hinzu. Die ideologischen Grenzen sind fließend und die Übergänge fließend.
Diese teils durch ihre Motivation, teils durch ihre Vorgehensweise bzw. ihre Ziele verbundenen Gruppen verstehen sich als „Community“, kurz „Com“. Ermittler sprechen daher auch vom „Com“-Netzwerk. Einem CeMas-Bericht zufolge gibt es innerhalb des Netzwerks Anleitungen, wie man potenzielle Opfer richtig anspricht und was bei Gewalttaten zu beachten ist.
Täter und Opfer in Baden-Württemberg? Das wissen wir
Die Täter feiern sich selbst wie Helden. Sie suchen sich ihre Opfer auf Discord, Roblox oder Telegram aus, teilweise angeblich auch im Zusammenhang mit beliebten Spielen wie „Minecraft“. Es ist ihnen wichtig, dass die Jugendlichen verletzlich und anfällig für den grausamen Plan sind. Soweit bekannt, spielt ihre Herkunft eine untergeordnete Rolle. Mit anderen Worten: Minderjährige können überall betroffen sein. Auch bei uns.
Wir wollten daher vom Landeskriminalamt wissen, wie viele Ermittlungen gegen mutmaßliche Mitglieder dieses „Com“-Netzwerks in Baden-Württemberg laufen – und wie viele mutmaßliche Opfer des Netzwerks im Land bekannt sind. Wir haben um eine Aufschlüsselung nach Landkreisen gebeten. Die Antwort fiel kurz aus: In Baden-Württemberg laufen Ermittlungen „im niedrigen einstelligen Bereich“ im Zusammenhang mit dem COM-Netz. Da die Ermittlungen noch andauern, könnten derzeit keine weiteren Angaben gemacht werden, sagte eine Sprecherin. Sie möchten vorerst niemanden in Ihre Karten schauen lassen.