Saša Stanišić in Kiel: So war die Lesung

Kiel. „Wenn die Witwe angesprochen werden will, stellt sie die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorn auf das Grab.“ Was für ein Titel! Er gehört zu einer Erzählung aus Saša Stanišićs neuestem Buch, für das der Autor im November mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis der Stadt Braunschweig ausgezeichnet wird.

Der 46-Jährige, der 1994 als 16-Jähriger mit seinen Eltern aus seiner bosnischen Heimat nach Heidelberg zog, sammelt spätestens seit 2014 renommierte Auszeichnungen. Damals erhielt er für seinen Roman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse, 2019 folgte der Deutsche Buchpreis für „Herkunft“.

Saša Stanišić in Kiel: Humorvolle Sprache reich an wunderbaren Neologismen

Seine Erfahrungen als Mensch „mit Migrationshintergrund“ sind zentraler Bestandteil des zu Recht gefeierten Werks des Wahl-Hamburgers, das durch eine erfrischende Kombination aus schweren und leichten Themen besticht, eingefangen in einer kreativen, humorvollen Sprache, die reich an wunderbaren Neologismen ist.

Der Autor Saša Stanišić taucht in seinen Romanen und Erzählungen oft auf, so auch in der ersten Erzählung seines neuesten Buches, die man wie einen Roman lesen könnte, der 1994 beginnt und 2023 endet. Vier Jugendliche aus dem Migrantenviertel treffen sich – wie so oft – in den Weinbergen oberhalb Heidelbergs und fantasieren über das Leben, das für die „Ausländerjungs“ nur eine „beschissene Zukunft“ bereithält. Einer von ihnen, Fatih, entwickelt einen Plan, Proberäume für die Zukunft einzurichten, in denen jeder sehen kann, was passieren könnte. „Einloggen kostet hundertdreißigtausend Mark.“

Saša Stanišićs Figuren wollen der Gegenwart entfliehen

In diesem Buch von Saša Stanišić mit dem unfassbar langen Titel tauchen verschiedene Charaktere jeden Alters auf. Es sind Figuren, „für die das Glück aufgrund der Umstände rar ist“ und die es im Leben nicht leicht haben. „Allen gemeinsam ist der Wunsch, der Gegenwart zu entfliehen“, sagt Saša Stanišić in Kiel, „sei es ein konkreter Konflikt oder eine Sackgasse.“

Eigentlich hätten die Geschichten in dem utopischen, „grundsätzlich positiven“ Buch fast zu glückliche Enden, sagt Stanišić. Doch in einer Zeit, die vom Verharren in negativen Kontexten geprägt sei, wolle er Geschichten mit Happy End erzählen. Soziale und politische Probleme der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart bleiben dabei allerdings nicht unerwähnt.

„Populismus, Rassismus, Migrantenthemen, Freundschaft und Solidarität sind wichtige Themen“, sagt Saša Stanišić. „Aber am Ende hat man immer das Gefühl, dass da auch ein bisschen Glitzer dabei ist.“ Und tatsächlich. Und wie.

Saša Stanišić, „Wenn die Witwe angesprochen werden möchte, stellt sie die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne auf das Grab.“ München, 2024. 24 Euro

CN