
Kirchen, Denkmäler, Kunst: Russland zerstört systematisch das Kulturerbe der Ukraine. Vor allem Museen stehen dabei im Fokus; viele Mitarbeiter leben inzwischen im Exil. Militärisch haben die Attacken und Plünderungen für Russland keinen Wert – das Ziel ist ein anderes.
Zweimal hat Olesja Milovanova erlebt, was russische Übernahme bedeutet: Sie war Leiterin des Regionalmuseums in Luhansk – bis dieses 2014 ins Exil gezwungen wurde. Und 2022 erneut, als dann das Exil-Museum in Starobilsk im Zuge der russischen Großinvasion von den Russen übernommen wurde. Fliehen habe sie damals nicht mehr können, sagt sie. Starobilsk sei sofort überrannt worden.
Aber nicht nur das: „Männer in Tarnanzug kamen und haben Zugang zur Sammlung und Inventarlisten gefordert“, erzählt sie. Oft aber kommen sie auch sehr gut vorbereitet und sofort mit Experten russischer Museen, erzählen andere Experten in diesem Feld. Und all das mit einem Ziel: Die Geschichte einer Region umzuschreiben.
Die ersten Schüsse der großen russischen Invasion in der Ukraine waren noch nicht gefallen, da hatte Russland Kiew eigentlich bereits offen den Krieg erklärt. Es war im Sommer 2021, da erschien unter dem Namen von Russlands Diktator Wladimir Putin ein Aufsatz. Das Fazit Putins darin: Es gebe sie nicht, die Ukraine. Denn dieses Land sei nicht mehr als eine Erfindung des Westens, ein Anti-Russland gewissermaßen auf russischem Gebiet, geschaffen, um Russland zu spalten und in die Knie zu zwingen.
Russen und Ukrainer, so Putins Schlussfolgerung, seien ein Volk und „im Wesentlichen derselbe historische und geistige Raum“. Und weiter: In der Ukraine finde ein „erzwungener Identitätswechsel“ statt. Die „wahre Souveränität der Ukraine ist nur in Partnerschaft mit Russland möglich“, schreibt er da. Und schließt mit den Worten: „Wir sind ein Volk.“
Solche Aussagen kommen einem kulturpolitischen Flächenbombardement gleich. Damals fielen noch mehr Worte als Bomben. Nach dem Februar 2022 aber hat sich diese russische Haltung gegenüber der Ukraine in Zielkoordinaten, Angriffen und sehr bewusst durchgeführten Übernahmen manifestiert. Kirchen, Museen, Kulturstätten, Denkmäler, Kunstsammlungen – sie alle sind Ziel direkter russischer Angriffe.
Es sind vor allem aber die Museen, die an vorderster Front dieses Kulturkampfes stehen. Denn sie – und seien es auch vielleicht auf den ersten Blick unbedeutend erscheinende und verstaubt wirkende Regionalmuseen – sind die Eckpfeiler des kollektiven Gedächtnisses und damit der Geschichtsschreibung eines Dorfes, einer Region und in Summe eines Staates. Es ist genau das, was Russland im Visier hat, wenn es Museen angreift oder übernimmt.
Gezielte Plünderung und Umdeutung von Artefakten
Das Ausmaß ist enorm: „Stand Oktober 2024 befinden sich etwa 1.700.000 Objekte des staatlichen Teils des Museumsfonds der Ukraine in den besetzten Gebieten“, heißt es seitens der stellvertretenden ukrainischen Kulturministerin Anastasia Bondar auf Anfrage. 350.000 Objekte und Artefakte seien zur Fahndung ausgeschrieben. Die Besatzung aber mache es unmöglich, so Bondar, die genaue Anzahl der Kulturdenkmäler zu ermitteln, „die während der Kampfhandlungen und Besatzung beschädigt wurden.“
Schäden aber sind nur eine Dimension. Gezielte Plünderung und Umdeutung von Artefakten und ganzen Museen sind eine andere. Laut Medienrecherchen sind alleine in zwei russischen Museen 110.000 aus ukrainischen Museen gestohlene Artefakte aufgetaucht, die dort aber als „alt-russisch“ ausgestellt werden. Das zieht sich weiter in die darstellende Kxunst. Für Russland ist alles Ukrainische russisch.
Laut Olesja Milovanova gibt es drei Arten, wie mit Museen unter russischer Okkupation verfahren wird: Entweder es wird zerstört, es wird geplündert oder es wird für Propagandazwecke verwendet. Ersteres geschehe mit Sammlungen, die eine eigene ukrainische Identität zeigten und die sich nicht umdeuten ließen.
Milovanova sagt: „Was auch immer ukrainisch ist – Stickereien, Keramik, sonstige Arbeiten – zerstören sie; archäologische Artefakte und Gemälde stehlen sie, wie auch Münzen, Medaillen und antike Waffen.“ Und was verwendbar sei, werde umgedeutet. Das Narrativ sei dann immer dasselbe: Die Region war immer russisch, Ukrainer seien Leute, die nur vergessen hätten, dass sie russisch seien, und das goldene Zeitalter der jeweiligen Region war die Sowjetunion.
Für Milovanova geht die Okkupation, Zerstörung, Plünderung, Umdeutung von Regionalmuseen durch Russland aber mit noch einem Aspekt einher, wie sie sagt: Die ethnische Vielfalt der Ukraine habe sich eben auch in kleinen lokalen Museen widergespiegelt. Unter russischer Okkupation werde dann aber die russische Ethnie immer als die dominante dargestellt, die immer da gewesen sei und über allen anderen stehe.
In Olesja Milovanovas Exil-Museum im damals noch ukrainisch kontrollierten Starobilsk in der Region Luhansk wurde derart verfahren: Als die Russen das Museum übernahmen, wurden dort etwa auch Artefakte gezeigt, die den bereits seit 2014 tobenden russisch-ukrainischen Krieg dokumentierten.
Heute sagt Milovanova: Die Sammlung sei in einigen Teilen mehr oder weniger die gleiche geblieben, einige Artefakte seien entfernt, andere hinzugefügt worden. Allerdings hätten die Russen eine umfassende Re-Kontextualisierung vorgenommen. Heute handle sich die ganze Ausstellung um ukrainische Faschisten und Nazis.
Militärisch haben solche Angriffe, Zerstörungen oder Übernahmen keinerlei Wert. Das kulturelle Erbe der Ukraine, ihr Selbstverständnis als eigener Staat mit eigener Geschichte, ist das eigentliche Ziel solcher Aktionen.
„Genozidale Absicht“
Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch der Europarat: Seit Beginn des Krieges seien mehr als tausend Kulturstätten beschädigt oder zerstört worden. Diese „gezielte Zerstörung und Plünderung“ sei „offenbar Ausdruck einer systematischen Politik“, die darauf abziele, „die historische und kulturelle Identität der Ukraine auszulöschen“. Der Europarat ortet hinter all dem eine, wie es heißt, „genozidale Absicht“.
Infolgedessen sind viele Museums-Leiter und -Mitarbeiter heute im Exil. Gemeinsam hat man ein Krisenzentrum aufgebaut. Man kennt einander über viele Jahre in dieser Szene. Man teilt eine Leidenschaft. Und man hilft einander. Nach wie vor gibt es zu einem gewissen Teil und über viele Umwege eine Koordination mit Museen unter Okkupation – freilich an der russischen Besatzungsmacht vorbei.
Denn viele arbeiten auch unter Besatzung weiter, versuchen zu dokumentieren und vor allem auch Sammlungen zu retten. Oftmals würden Artefakte irgendwo vergraben, erzählt Milovanova. Museums-Mitarbeiter würden dann Fotos und Koordinaten senden. Auch Milovanova hat das getan, bevor sie Starobilsk verlassen hat, wie sie sagt.
Das ist durchaus gefährlich. Berichtet wird davon, dass dann etwa Familienangehörige von Museums-Mitarbeitern von russischen Soldaten entführt wurde, um vergrabene Schätze ausfindig zu machen.
Milovanova selbst konnte damals nur durch einen Zufall aus Starobilsk entkommen. Für Museums-Mitarbeiter die nicht fliehen konnten, ist die Gegenwart unter russischer Okkupation indes eine tägliche heikle Gratwanderung zwischen der Entscheidung, eine Sammlung zu bewachen und Kollaboration: Es sei „individuell und sehr komplex“, sagt
Milovanova. Und in vielen Fällen verstehe sie „den Zwang der Umstände, bei den eigenen Sammlungen zu bleiben und seine berufliche Pflicht bis zum Ende zu erfüllen, um ukrainisches Kulturerbe zu retten.“
Handel mit gestohlenen Artefakten
Ein Problem ist, dass der Schaden am ukrainischen Kulturerbe kaum beziffert werden kann. Viele Sammlungen sind nicht digitalisiert. Aktuell wird an einem Register gearbeitet. Aber von einer genauen Übersicht über den Bestand in diversen Museen ist man weit entfernt. Und der Mix aus Plünderung, Umdeutung und Zerstörung, mit dem Russland tätig ist, erleichtert diese Arbeit keinesfalls.
Laut internationaler Experten könnte der Handel mit gestohlenen Artefakten jedenfalls zu einem echten Problem werden. Wie OSZE-Experte Cameron Walter sagt: „Es fängt immer wie ein sanftes Tropfen an, da wird erst einmal der Markt ausgetestet.“ Einige Fälle, die ein solches „Tropfen“ erahnen lassen, gebe es bereits. Viele Artefakte aber, so ist sich der Experte aber sicher, „werden für immer verschwunden sein.“
Dessen ist sich auch Olesja Milovanova sicher – auch wenn sie sagt, dass einige aus ihrem Museum geplünderte Artefakte wieder ausgeforscht werden konnten.